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„Der Spielraum ist ausgeschöpft“

Vor dem Zentralkomitee der KPdSU kämpft Gorbatschow für Marktwirtschaft und Eigentum der Fabrikbelegschaften/ Staatssektor soll erhalten bleiben/ Warnung vor „Libanisierung“ der SU  ■ Von Christian Semler

Die Stunde der Wahrheit, wo abgerechnet wird und die Böcke von den Schafen geschieden werden, sieht die Moskauer 'Iswestija‘ über Michael Gorbatschow hereinbrechen. In einem Kommentar zum ersten Sitzungstag des erweiterten Plenums der sowjetischen Kommunisten ermahnte sie den sowjetischen Präsidenten, sich endlich zu entscheiden. Es gelte, mit überkommenen Stereotypen und einer veralteten Linie Schluß zu machen. Andernfalls werde Gorbatschow, und sei es auch gegen seinen Willen, im Lager der Konservativen landen.

Als spüre er diese Aufforderung im Nacken, leistete Gorbatschow in seinem Eingangsreferat rhetorische Schwerarbeit, damit die Delegierten „ihre Ressentiments und Ängste vor der Marktwirtschaft abstreifen“. Sein aus drei Vorschlägen synthetisiertes Übergangsprogramm zur Marktwirtschaft, das er am 15. Oktober vorlegen werde, sei „kein Kompromißdokument, von dem alle Ecken und Kanten abgeschliffen worden sind, sondern ein Programm, das alle Schichten der Gesellschaft konsolidieren kann“. Es eröffne sich die Möglichkeit, „mit allen patriotischen und progressiven politischen Kräften zusammenzuarbeiten“. Also die Koalitionsregierung. Nur — mit wem? Gorbatschows Stellvertreter Iwaschko beklagte in seinem Referat die politische Polarisierung und das Wachstum der „antisozialistischen Kräfte“. Man versuche, die KPdSU „an den Rand des öffentlichen Lebens zu drängen oder gar als Feind zu porträtieren“. Angesichts dieser eher zurückhaltend formulierten Analyse (man denke nur an die Parteiaustritte der letzten Monate) fällt es schwer, an den Realitätsgehalt von Gorbatschows Angebot zu glauben.

Der Präsident versuchte, die geplante Wirtschaftsreform innerhalb eines modernisierten sozialistischen Bezugsrahmens zu halten. Er kritisierte die Gegenüberstellung von Sozialismus und Markt in der traditionellen Theorie, erklärte das Eigentumsmonopol des Staates zur Wurzel allen Übels, setzte sich — innerhalb einer Pluralität von Eigentumsformen — für den Vorrang des Belegschaftseigentums an Produktionsmitteln ein und bestand auf einem starken Staatssektor hauptsächlich im Verkehrs- und Energiewesen. Für die Bauern avisierte er gesicherte individuelle Nutzungsrechte in Form der Erbpacht. Zum x-ten Male zitierte Gorbatschow Lenins Neue ökonomische Politik als Vorbild — nicht im Sinne einer Rückzugslinie, sondern als Modell des Sozialismus.

Zu der alles entscheidenden Frage, wo Wirtschaftspolitik innerhalb einer erneuerten Union überhaupt angesiedelt und welche Kompetenzen dem erneuerten Bund der einzelnen Republiken, autonomen Gebiete, Städte etc. zugestanden werden, fiel Gorbatschow nicht viel ein. Er verlegte sich auf Warnungen vor „separatistischen“ Tendenzen: „Wenn die heutigen negativen Erscheinungen nicht überwunden werden, dann droht dem Land die Libanisierung mit allen sich daraus ergebenden Folgen.“ Die Rettung könne, so Gorbatschow, nur von der künftigen „Union souveräner Staaten“ kommen, innerhalb derer sich die „Wiedergeburt der Völker“ vollziehen werde.

Während das ZK am Dienstag noch debattierte, verabschiedete der Oberste Sowjet der Union zwei ebenso überfällige wie grundlegende Gesetze: Die bereits bestehende Parteienvielfalt wurde durch ein Vereinigungsgesetz legalisiert, und in erster Lesung wurde ein Bankgesetz gebilligt. Hierdurch wird die Zentralbank der Union ebenso verselbständigt wie die künftigen Zentralbanken der Republiken. Sie sollen über Geldumlauf und Kreditsystem wachen, während das Bankgeschäft von Geschäftsbanken wahrgenommen würde — alles nach dem Vorbild des westlichen Kreditsystems.

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