: Vorurteile, fest wie Jerusalems Klagemauer
Nach dem Blutbad am Tempelberg herrscht in der Al-Aksa-Moschee Trauer und Wut/ Gläserner Reliquienschrank für die gesammelten Instrumente der Repression/ Der Alltag kehrt zurück, eine Mischung aus Trauerarbeit und Trivialität ■ Aus Jerusalem Frank Ludwig
Jerusalem, zwei Tage danach. Der ewig blaue Himmel wölbt sich über der heiligen Stadt. Singen und Tanzen an der Klagemauer. Es ist „Simchat Torah“, der letzte Feiertag des jüdischen Laubhüttenfestes. Die absolute Sicherheit der Feiernden sei garantiert, sagen die Verantwortlichen. Die halbe israelische Polizei sei in den Gassen und auf Dächern der Altstadt unterwegs, verstärkt durch den Grenzschutz. Hubschrauber kreisen über dem Geschehen.
Wenig später, überhalb der Klagemauer, auf dem Tempelberg. „Allahu akbar!“ ruft einer aus der Runde. „Allah ist stärker als sie!“ — „Allah ist groß“, wird ihm geantwortet. Dicht an dicht sitzen Männer verschiedenen Alters in der Tiefe der Al-Aksa-Moschee und lauschen den Worten vor der Gebetsnische: Es wird Klage geführt um die Toten vom Montag, Klage gegen die Welt, die auf den irakischen Einmarsch in Kuwait reagiert, als schicke sich das Böse an, den Globus zu erobern, die aber tatenlos zusieht, wie die Palästinenser hier sterben. Wievieler Grausamkeiten der Israelis bedarf es denn noch, ehe die Welt etwas tut?
Ich werde vor den gläsernen Schrank geführt, der die vielen leeren Tränengasgranaten, Patronenhülsen, Projektile, Metallsplitter, zerbrochenen Schlagstöcke kaum fassen kann. Stumme Zeugen des Geschehens. Und dennoch, erzählt man mir, ist dies alles nur das, was den Israelis entgangen ist, als sie am Montag abend die gröbsten Spuren des Zusammenstoßes beseitigten. Als wären die vielen Toten nicht schon unvorstellbar schlimm genug. „Hast du das schon fotografiert?“ fragt mich einer und hält mir ein blutverkrustetes T-Shirt entgegen, das in der linken oberen Hälfte unverkennbar zerschossen ist. Er solle doch mal einen Schritt zur Seite gehen, wird gebeten. Er störe doch ein französisches Kamerateam, das eben versucht, die richtige Einstellung für die Nahaufnahme einer alten Frau zu finden, die im grellen Licht der Scheinwerfer ihren Sohn beweint — nach Anweisung des Regisseurs. Auch draußen, auf dem Plateau, das hinüber zum Felsendom aufgebrochen sein soll, entstehen Bilder. Um eingetrocknete Blutlachen auf dem Steinboden gruppieren sich Jugendliche: „Wir vor dem Blut unserer Märtyrer!“ — für das Familienalbum daheim.
Die wirkliche Trauer wird von den Trivialitäten des Alltags verdrängt. Von einem Alltag, in dem Palästinenser und Israelis sich immer wieder aufs Neue selbst beweisen scheinen müssen, wie groß die Feindseligkeit ist, die man dem anderen gegenüber empfindet. Wer vermag schon zu trauern, wenn ihm so unfaßbare Tragödien wie die vom Montag nur eine Bestätigung für das sind, das man dem anderen längst zugetraut, ja das man von ihm eigentlich längst erwartet hat?
Die Toten und Verletzten lagen noch in ihrem Blut, als auf beiden Seiten schon Vorwürfe und Anschuldigungen aus den Schubkästen geholt wurden, die Außenstehenden absurd erscheinen müssen: Die Palästinenser hätten das Blutbad vorsätzlich provoziert, um die Weltöffentlichkeit von den Vorgängen am Golf abzulenken. Die eigentlichen Täter säßen in Bagdad, sagt Schamir. Der Polizeiminister ergänzt: Es seien Hunderte von Steinen vom Tempelberg herab auf die vielen gläubigen Juden geworfen worden, welche aus Anlaß des Laubhüttenfestes zum Fuße des Berges, an der Klagemauer, zum Gebet versammelt waren. Als die Polizei daraufhin in den Bezirk der Moslems vordrang, um der Steinewerfer habhaft zu werden, sei sie in einem von langer Hand vorbereiteten Hinterhalt geraten, und von Tausenden Arabern mit Flaschen, Äxten und Wurfgeschossen attakiert worden. Seinen Leuten wären gar nichts anderes übriggeblieben, als zu Schußwaffen zu greifen.
Kein einziger Stein sei geflogen, ehe die Polizei kam, schwören die Palästinenser. Sie hätten sich an diesem Tag auf dem Tempelberg eingefunden, um jene extremistischen „Gläubigen des Tempelberges“ abzuwehren, die angekündigt hatten, am Montag dort den Grundstein für den dritten jüdischen Tempel legen zu wollen, der die Ankunft ihres Messias vorbereiten soll. Die Sicherheitskräfte hätten wahllos in die Menge hineingefeuert, nachdem es an einem der Tore zu Handgreiflichkeiten mit den „Gläubigen“ gekommen sei. Ein inszenierter Zwischenfall. Und wie die Israelis schlagen auch die Palästinenser den Bogen zum Golf: „Die Israelis fühlten sich unbeobachtet, weil die Welt vom Konflikt in Kuwait in Atem gehalten würde, und wollten zum entscheidenden Schlag ausholen.“
Vielleicht wird man eines Tages wirklich erfahren, wie es zu der Tragödie kommen konnte. Ob das dann noch jemanden hier interessiert? Längst stehen doch die Vorurteile so fest wie die Klagemauer, der einzige Überrest des von den Römern im Jahre 70 zerstörten jüdischen Gotteshauses: Gewissenlose Gewalttäter, denen nicht einmal das Leben der eigenen Landsleute etwas bedeutet, fassen die einen zusammen, Massenmörder, die wehrlose Menschen massakrieren, resümieren die anderen — und sind sich wieder einmal einig: Eine friedliche Verständigung mit denen? Nie! Jerusalem, zwei Tage danach.
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