„Die Chance der Rückständigkeit nutzen“

■ Interview mit dem Präsidenten der Rostocker Bürgerschaft, Christof Kleemann (Neues Forum)/ Der Ostseeraum als regionaler Regelkreis INTERVIEW

taz: Die Rückständigkeit Mecklenburgs ist geradezu sprichwörtlich. Ist Mecklenburg-Vorpommern das rückständigste Bundesland im vereinigten Deutschland?

Christof Kleemann: Ja. Mecklenburg-Vorpommern ist das rückständigste Land im östlichen Teil Deutschlands wie Schleswig-Holstein im westlichen. Das ist seine Geschichte, seine Tradition, und auch ein bißchen das Liebenswerte an diesem Land. Es ist vielleicht nicht unbedingt sein Schicksal für alle Zeiten. Ich könnte mir vorstellen, daß durch andere strukturelle Entwicklungen Mecklenburg-Vorpommern zwar nicht den Anschluß an den Süden bekommt — das wäre gar nicht so erstrebenswert —, aber eine eigene Rolle in einem gefestigten Rahmen findet, nämlich wenn es sich dem nördlichen Kreis öffnet, von dem wir bisher abgeschnitten waren.

Gilt das nicht in erster Linie für die Küstenregion?

Das bezieht sich vor allem darauf, daß die Ostsee, die vierzig Jahre Grenzgebiet war, nun für unsere Region Verkehrsweg wird, oder sogar ein Hauptverkehrsweg werden könnte. Die Strukturen, die an der Küste entstehen, werden ins Hinterland wirken. Wir werden uns den Ostseeraum als eine Art regionalen Regelkreis erschließen, uns in das Beziehungsgeflecht Skandinavien, Deutschland, Baltikum eingliedern und dort völlig neue Schwerpunkte für uns entdecken.

Widerspricht eine rasche wirtschaftliche und strukturelle Entwicklung, etwa eine bessere Ost-West-Verkehrsanbindung, nicht dem Schutz der Natur, die ja gerade die Attraktivität der Region für den Tourismus ausmacht?

Die Rückständigkeit der DDR ist uns an manchen Stellen auch schon einmal zugute gekommen. Die früheren Verantwortlichen in diesem Land, mit denen ich mich überhaupt nicht identifizieren mag, hätten die Küstenregion sicher gern gestaltet wie am Schwarzen Meer, hätten sie vollgeknallt mit Hotelkomplexen, Verkehrsanbindungen und das ganze Land mit Industrie durchzogen. Dazu waren sie nicht in der Lage. Das ist unser Glück. Man hat die alten Industriezentren ausgebaut und den Norden in seiner Rückständigkeit belassen. Diese Chance sollten wir jetzt nutzen, und wir können sie nutzen, weil wir auch eine starke Umweltlobby haben, bis dahin, daß wir möglicherweise die ganze Ostseeküste als Naturschutzgebiet bewahren können. Auch in Schleswig-Holstein haben viele Verantwortliche ein großes Interesse daran, daß diese Küstenregion in eine Art Naturpark verwandelt wird. Das heißt natürlich, daß die dringend notwendige Ost-West-Anbindung zwischen der Bundesrepublik und Polen bis ins Baltikum hinein nicht zu Lasten der Region gehen darf, sondern die wichtigen Naturstreifen umgehen muß. Das gleiche gilt für die Nord-Süd-Verbindung.

Stichwort Baltikum: Gibt es da schon besondere Beziehungen?

Nach meiner Beobachtung ist das Baltikum im Moment ein Tabubereich. In dieser sensiblen Phase hat man klugerweise davon abgesehen, sich in die Konflikte der baltischen Länder mit Moskau einzumischen und spezielle Beziehungen aufzubauen. Aber es gibt ganz natürliche Verbindungen über die Geschichte, die Tradition und die Ostsee, die sicher eine große Zukunft haben. Ich gehe davon aus, daß die baltischen Länder in diesem Ring um die Ostsee herum unsere natürlichen Verbündeten sein und uns wirtschaftlich und kulturell wesentlich näher kommen werden, als zu der Zeit, in der die deutsch-sowjetische Freundschaft gepredigt wurde.

Denken Sie an Rostock als eine Art kulturelles Zentrum für die nördlichen Ostsee-Anrainer-Staaten als auch in Richtung Polen und Baltikum?

Für Deutschland wird Rostock möglicherweise diese Rolle spielen, aber nicht für Europa. Die klassischen Ostseestädte der anderen europäischen Länder, vor allem der skandinavischen, haben diese Rolle übernommen. Aber für Deutschland fehlt dieser Bereich. Auch von Kiel und Lübeck ist er nicht umfassend abgedeckt. Ich gehe davon aus, daß ein ganzer Teil des Verkehrsstroms Skandinaviens, der bisher nach Kiel geflossen ist, in Zukunft nach Rostock fließen wird, auch der günstigen Nord- Süd-Anbindung wegen.

Was würden Sie der neuen Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns ins Stammbuch schreiben, wenn Sie drei Wünsche frei hätten?

Ich würde empfehlen, daß die neue Landesregierung ein Schwergewicht auf die Klammer legt, nämlich Mecklenburg-Vorpommern zu einem Land werden zu lassen. Mecklenburg und Vorpommern liegen nicht so weit auseinander, es gibt genug organische und kulturell-traditionelle Verbindungen. Aber im Augenblick gibt es ein nach innen gekehrtes Vorpommern-Verständnis mit einem landsmannschaftlichen Touch, was sehr verständlich ist und ich auch nicht schlimm finde. Aber es muß nicht gestärkt werden. Da wir an den gleichen Problemen kranken und auf eine ähnliche Zukunft hoffen, ist es jetzt wichtiger, daß wir uns jetzt erstmal auf unser Gemeinsames besinnen. Das bedarf deutlicher politischer Impulse. Impulse welcher Art?

Zum Beispiel, daß die Stärkung der vorpommerschen Städte und Zentren von Mecklenburg aus ganz klar und durchsichtig erfolgt, daß keine Zentralisierung, von wo auch immer, Schwerin oder Rostock, einsetzt, daß Vorpommern auch wirklich spüren kann, daß es kein Anhängsel Mecklenburgs sein soll, sondern ein gleichberechtigter Partner ist und endlich aus dieser Misere herauskommt, am Rande zu stehen. Diese Misere hat Vorpommern schon lange genug erleiden müssen.

Und Ihr zweiter und dritter Wunsch?

Mir ist sehr wichtig, daß die Verantwortlichen im künftigen Land die Verbindung zum Nachbarland Schleswig-Holstein pflegen, die ebenfalls organisch gegeben ist. Sehr viele Dinge, die für uns gut sei könnten, sind dort schon pars pro toto vorgenommen, auch für einen möglichen Nordstaat, obwohl das in den nächsten Jahren sicher noch nichts wird.

Im Märchen ist es so, daß der dritte Wunsch meistens der entscheidende ist. So geht es mir jetzt auch. Die künftige Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern sollte möglichst viele und überzeugende Formen schaffen, um Bürgermitbestimmung in der Politik zu gewährleisten. Ich denke dabei an Referenden, Bürgerentscheide in der Landesverfassung, an Bürgerinitiativen, Bürgerforen und eine große Öffentlichkeitsarbeit.

Nach einer Reihe von Erfahrungen eines Vierteljahres Kommunaldemokratie möchte ich doch sagen: Ich hoffe, daß die künftigen Verantwortlichen nicht so schnell die viel einfacheren Praktiken der zentralistischen Machthaber von einst übernehmen. Die Gefahr lauert uns ständig im Nacken. Es bedarf großer Wachsamkeit. Interview: Beate Seel