: Abschotten, solange es geht
taz-Gatt-Serie, Teil 2: Nach innen tut sich die EG schwer mit dem Konsens, nach außen bleckt sie die Zähne/ Noch keine Lösung im Streit um die Agrarsubventionen/ Die Länder des Südens sollen sich für die Dienstleistungen des Nordens öffnen ■ Aus Brüssel Michael Bullard
„So langweilig sind sie gar nicht, die Gatt-Verhandlungen.“ James Howard vom Internationalen Bund Freier Gewerkschaften hält es für ein Fiasko, daß die Gespräche über das Freihandelsabkommen Gatt, auf englisch General Agreement on Tariffs and Trade, häufig als General Agreement on Talks and Talks abgetan werden. „Wer weiß denn schon“, so der britische Gewerkschaftler, „daß die EG-Unterhändler Maßnahmen zustimmen könnten, die nicht nur für viele europäische Bauern das Aus bedeuten, sondern auch die Auflösung großer Teile der EG-Textilindustrie mit sich bringen könnten?“. Und sarkastisch fügt er hinzu: „Während die britische Labour-Partei noch darum ringt, ob sie einer Souveränitätsverlagerung von Westminster nach Brüssel zustimmen soll, bereiten die Gatt-Freihandelsarchitekten bereits den Umzug von Brüssel nach Genf vor“.
Zwar ist es noch lange nicht so weit, daß das in Genf beheimatete Gatt-Sekretariat die nationalen Handelsgesetze der hundert Mitgliedsstaaten an die Erfordernisse des freien Welthandels anpassen darf. Doch die Modernisierung der von den Multis dirigierten Welthandelsordnung, auf die weder Gewerkschaften noch Verbraucher- oder Umweltgruppen Einfluß haben, ist längst in der nächsten Runde.
Bevor sie abgeschlossen werden kann, haben die Gatt-Unterhändler allerdings noch einige praktische Probleme zu lösen. Denn im Moment sieht es so aus, als ob die gegenwärtige Uruguay-Runde zur Reduzierung von Handelshemmnissen, die 1986 im uruguayischen Luxusbadeort Punta del Este begonnen hatte und Anfang Dezember in Brüssel beendet werden soll, scheitern könnte. Am umstrittensten, innerhalb wie außerhalb der EG, ist die geforderte Aufhebung der landwirtschaftlichen Exportsubventionen und Importbeschränkungen der EG.
Diese sollen einerseits die Euro- Bauern vor den produktiveren ausländischen Konkurrenzimporten schützen und den Nahrungsmittelfirmen ein künstlich erhöhtes Preisniveau sichern. Andererseits werden durch die heruntersubventionierten Exportpreise Absatzmärkte erobert — beispielsweise in Brasilien, wo künstlich verbilligtes EG-Rindfleisch die argentinische Konkurrenz ausschaltete.
Hatten die USA bis vor kurzem noch einen hundertprozentigen Abbau gefordert, so überraschte die US-Handelsbeauftrage Clara Hill Mitte September mit der Kompromißforderung, die Agrarsubventionen bis Ende des Jahrtausends um 75 Prozent zu reduzieren. Diesen Vorstoß benutzten die für Außenhandel und Binnenmarkt zuständigen EG- Kommissare Frans Andriessen und Martin Bangemann, um ihrem Kollegen, dem Agrarkommissar Ray MacSharry, in den Rücken zu fallen: Dessen Vorschlag, die Subventionen von 1986 bis 1996 um 30 Prozent zu kürzen, sei ungenügend.
Getreide- oder Maschinenbauer?
Die Mehrheit der EG-Kommissare, die bei den Gatt-Verhandlungen als Sprecher der Zwölf auftreten, stützten die Verkünder des Freihandels, die Nachgiebigkeit gegenüber den USA fordern. Schließlich ist die EG- Industrie sehr stark vom freien Export abhängig — die deutsche beispielsweise wie keine andere in der Welt. Prompt macht seither das Wort vom Getreidebauer die Runde, der für den Maschinenbauer bluten soll.
Der Agrarkommissar wiederum erhielt Zuspruch von einem Teil der EG-Landwirtschaftsminister; anderen, etwa dem Bundeslandwirtschaftsminister Kiechle, geht wahlkampfbedingt selbst MacSharries Angebot zu weit. Die Agrarminister, denen die Bauernlobby bereits seit Monaten zusetzt, haben in dieser Frage allerdings nur beratende Funktion. Ausschlaggebend sind die Außen- oder Wirtschaftsminister, die nächsten Donnerstag, drei Tage nach dem offiziellen Gatt-Einsendeschluß für Agrar-Angebote, über die Größe des „Bauernopfers“ entscheiden wollen.
Die Verzögerung der Ministerentscheidung um drei Tage sei nicht beunruhigend, so der italienische Wirtschaftsminister Ruggiero: Schließlich hätten auch die US-Amerikaner Probleme, ihre Agrarofferten rechtzeitig abzugeben. Außerdem stünde ohnehin eine grundlegende Reform des gegenwärtigen EG-Landwirtschaftssystems an, die in den wenigen Tagen nicht zu schaffen sei. Das System, mit dem die EG zur Zeit ihre etwa zehn Millionen bäuerlichen Betriebe unterstützt, hat schließlich große Nachteile: Es reizt zur — chemisierten — Produktion von Überschüssen. Deren Lagerung und Exportsubvention belasten den EG-Haushalt extrem — und trotzdem gibt es weiterhin Massenpleiten: 250.000 bis 300.000 Bauern machen Jahr für Jahr dicht.
Eine Konfliktkonstellation ganz anderer Art bestimmt die Diskussion über den Abbau der Handelsbarrieren gegen billige Textilimporte. Gegen den Protektionismus der westlichen Industriestaaten laufen vor allem asiatische Entwicklungsländer Sturm. In diesem Fall steht neben den USA auch die EG am Pranger. Beiden wird vorgeworfen, nicht mehr zu der Zusage zu stehen, rechtzeitig Übergangsregeln vereinbaren zu wollen, wenn Mitte nächsten Jahres das vierte Welttextilabkommen ausläuft. Der Einberufung der laufenden Gatt-Runde hatten viele Textil- Exporteure überhaupt nur zugestimmt, wenn am Rande auch diese Frage mitverhandelt wird.
Die indische Regierung etwa fordert, daß der Welttextilhandel in Zukunft nach den Gatt-Regeln abgewickelt wird. Vor allem die Faser-, Stoff- und Bekleidungshersteller Portugals, Italiens, Irlands und Belgiens machen hingegen Druck, daß das Welttextilabkommen — das Massenimporte in die EG aus Drittländern einschränkt — noch einmal verlängert wird. Denn, so der Präsident des Verbandes der führenden europäischen Textilunternehmen, Julien Charlier, die europäische Textilindustrie lasse sich nicht auf dem „Altar des Gatt-Systems opfern“.
Freihändler Andriessen zeigt sich in dieser Frage überraschend konzessionsbereit: „Eine völlige Liberalisierung von heute auf morgen ist nicht möglich.“ Auf keinen Fall dürften die in den letzten Jahren teuer erkauften Strukturveränderungen in der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie aufs Spiel gesetzt werden. In der BRD beispielsweise war bei der Umstellung auf die Produktion chemischer Fasern in den 70er und 80er Jahren die Zahl der Beschäftigten in der Textilindustrie halbiert worden.
Feilschen um Plagiate und Patente
Heftig gefeilscht wird auch um den Vorschlag, weltweiten Rechtsschutz für geistiges Eigentum und von Investitionen in das Gatt zu verankern. Neben dem freien Handel mit Dienstleistungen wurden die Patentrechte zu einem der „neuen Gebiete“, die die westlichen Staaten in die Verhandlungen einbrachten. Denn Raubkopien von Musikkassetten, Computerprogrammen, Arzneimitteln und Videos, aber auch Plagiaten von Uhren, Jeans und Parfums sind zum Ärger der nördlichen Patentinhaber ein lukratives Geschäft. Die Entwicklungsländer befürchten jedoch, daß ihr Entwicklungsprozeß noch teurer würde, weil sie Milliardenbeträge für Patentrechte an die reichen Länder bezahlen müßten. Ihrer Meinung nach ist der Patentschutz eine Angelegenheit, die von der Weltorganisation für Intellektuelle Patente in Genf (WISO) behandelt werden soll.
Größter Stolperstein für die Eingliederung einer weltweiten Patentschutzregelung in das Gatt ist allerdings die Diskussion in den westlichen Ländern selbst, ob auch „lebendige Produkte“ wie gentechnisch veränderte Planzen oder Tiere patentiert werden sollen. Während vor allem die skandinavischen und südeuropäischen Regierungen sich dieser Idee widersetzen, machte die US—amerikanische und mitteleuropäische Biotech-Industrie ihren ganzen Einfluß geltend, um die Patentierung durchzusetzen. Auch die EG- BürokratInnen sind geteilter Meinung: Die Generaldirektion Umwelt ist dagegen, die KollegInnen vom Binnenmarkt sind dafür.
Der Konflikt zwischen der Patentlobby einerseits und den Züchter- und Bauernverbänden andererseits zieht sich auch quer durch die EG-Institutionen Ministerrat, EG-Kommission und die Mitgliedsregierungen. Dies hat dazu geführt, daß es der EG-Kommission trotz gewaltiger Anstrengungen nicht gelungen ist, ein einheitliches Angebot für die Gemeinschaft zu entwickeln. Deshalb ist zu vermuten, daß der Patentschutz keinen Eingang in diese Runde der Gatt-Verhandlungen finden wird.
Die Entwicklungsländer weigern sich auch, den Forderungen der Industrieländer nachzukommen, ihre Märkte für den Handel mit Dienstleistungen zu öffnen — vielfach könnten die einheimischen Sektoren gegen die neue Konkurrenz nicht mithalten.
Dienstleistungen tragen in der Bundesrepublik etwa 60 Prozent zum Bruttosozialprodukt bei, in den USA sind es rund 70 Prozent. Ihr Anteil am Welthandel beträgt mittlerweile rund 15 Prozent — mit stark steigender Tendenz: Das internationale Geschäft mit Tourismus, Bankgeschäften, Versicherungsleistungen, Filmen oder Rockkonzerten blüht und soll jetzt in das Gatt unter dem Titel „General Agreement on Trade in Services“ (Gats) aufgenommen werden.
Super-Institution aus Gatt, IWF und Weltbank?
Aufgrund von Interventionen der USA und der EG bleibt auch die Frage ausgeklammert, wie die Rechte am grenzüberschreitenden Transport zu Wasser und an Land verhandelt werden sollen — der Luftraum ist ohnhin durch bilaterale Abkommen bestimmt. Ausgeklammert haben die Freihändler aber vor allem die demokratische Kontrolle und den Umweltschutz. Um diese „Gattastrophe“, wie es eine Brüsseler Dritte-Welt-Gruppe nennt, in Zukunft noch ausdehnen zu können, wollen einige Gatt-Manager jetzt sogar umsetzen, was ihre Väter und Mütter nach dem Zweiten Weltkrieg anvisiert hatten. Der italienische Handelsminister Renato Ruggiero und sein kanadischer Kollege John Crosbie propagieren, die Institutionen des 1947 gegründeten Gatt mit dem IWF und der Weltbank zu einer Art globalem Wirtschaftsministerium zu verschmelzen. Doch angesichts des jetztigen Zustandes der Gatt-Verhandlungen ist dies eine Vision allerfrühestens für das nächste Jahrtausend.
Teil 1 der Gatt-Serie, eine kleine Geschichte des Freihandelsabkommens, ist am 9.10. erschienen.
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