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Einheit von Einsicht und Praxis

■ Der Friedensnobelpreis für Gorbatschow KOMMENTARE

Ruhm ist im Zeitalter der VIPs eine veraltete Kategorie. Die von den Medien gemachten Persönlichkeiten sind eher notorisch denn berühmt. Ihr Auf- und Abstieg wird durch die Frenquenz der Fernsehauftritte bestimmt. Im Fall der Verleihung des Friedensnobelpreises an Michail Gorbatschow ist man dennoch versucht, jene Begriffe zur Hilfe zu rufen, die von historischer Größe handeln. Nicht, daß die Vision einer Weltgesellschaft, in der die gemeinsame Bewältigung der „Menschheitsaufgaben“ über den Kampf der politischen und sozialen Systeme hinausgreift, auf Gorbatschow zurückginge. Andrej Sacharow, der den Friedensnobelpreis in der Verbannung erhielt, hat dies alles vorgedacht. Was uns Bewunderung abnötigt, ist vielmehr die oft in Sachen der Außenpolitik für unmöglich erklärte Einheit von theoretischer Einsicht und Praxis, die Beharrlichkeit in der Verfolgung der Ziele, der überaus riskante Bruch mit überkommenen Gewißheiten und die Entschlossenheit, unhaltbare Positionen zu räumen. Erinnern wir uns, daß die Abschaffung der Atomwaffen bis zum Jahre 2000 zu den ersten Forderungen des Generalsekretärs gehörte. Mittlerweile sind die Mittelstreckenraketen in Europa entfernt und die Halbierung der strategischen Arsenale der Supermächte steht bevor. Frühzeitig wurde auch das Ende der Breschnew-Doktrin verkündet. Aber wer hat schon damit gerechnet, daß Gorbatschow den Zusammenbruch der realsozialistischen Regime in Ost- und Südosteuropa lediglich mit sardonischem Witz kommentieren würde? Oft ist diese gewaltige Rückzugsbewegung mit der Bemerkung relativiert worden, sie sei lediglich Ausdruck unabwendbarer innenpolitischer Pressionen. Daß aus Einsichten dieser Art überhaupt Konsequenzen gezogen wurden, ist historisch die Ausnahme. Daß aber von einem desintegrierenden Imperium konstruktive Impulse für die Neuordnung der internationalen Beziehungen, für eine wirksame Politik der Kriegsverhütung ausgehen, ist absolut neu. Hier liegen allerdings auch die Grenzen des Gorbatschowschen „grand design“. Es könnte eingeholt und zerstört werden vom Zusammenbruch der Sowjetreiches, für dessen Reform von Gorbatschow nur halbherzige und stets verspätete Initiativen ausgingen. Will der Westen verhindern, daß die weit ausgreifende Friedenspolitik Gorbatschows in den Malstrom der inneren sowjetischen Wirren gerät, so ist mehr vonnöten als die Ehrung durch die Akademie zu Oslo. Christian Semler

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