: Flüchtlinge auf »Hungerdiät« gesetzt
■ Flüchtlinge wehren sich gegen Zustände in Ostberliner Unterkunft/ Täglich mit 1.600 Kalorien »versorgt«/ Sanitäre Anlagen in desolatem Zustand/ Magistrat verspricht, Forderungen zu erfüllen
Hessenwinkel. Der Anblick verschlug selbst hartgesottenen MitarbeiterInnen von Flüchtlingsgruppen die Sprache: demolierte Wasserleitungen und Waschbecken, Schimmel und Pilze in den »Naßzellen« und dazu eine tägliche Verpflegung, die zwangsläufig zur Mangelernährung führen muß. Das sind die Zustände in der ehemaligen Stasi-Kaserne »Feliks Dzierzynski«, zur Zeit Unterkunft für etwa 320 Asylsuchende aus dem Libanon, Rumänien, Somalia und anderen Ländern. »In acht Jahren Flüchtlingsarbeit«, erklärte Hanne Garrer von der Westberliner Heilig-Kreuz-Gemeinde, »habe ich so was noch nicht gesehen.«
Letzten Montag platzte schließlich etwa 40 arabischen Flüchtlingen der Kragen; sie verweigerten vorerst die Annahme der Verpflegung und forderten von der Sozialverwaltung des Ostberliner Magistrats, dem die ehemalige Stasi-Kaserne untersteht, Bekleidungshilfe und die Ausbesserung der sanitären Anlagen. Die waren zuerst von den Angehörigen des Stasi-Regiments ramponiert worden, bevor sie vor dem Volkszorn die Flucht ergreifen mußten. Die wütenden BürgerInnen von Hessenwinkel taten ein übriges und demolierten Duschen, Toiletten und Waschbecken. Leidtragende sind nun die Asylsuchenden.
Vor allem aber protestieren sie gegen die skandalöse Verpflegung. Daß einige das Essen aus dem Fenster geworfen hatten, wundert Hanne Garrer nicht — »bei dem Fraß«.
Besonders appetitlich sah das Beweisstück denn auch nicht aus, das zwei Bewohner aus Hessenwinkel dem Berliner Flüchtlingsrat präsentierten. Eine fahl schimmernde Gurkenscheibe, eingekochte Kartoffeln und »undefinierbares Fleisch« gehören zur täglichen Ration, die den BewohnerInnen bislang von einer Großküche aus dem Ort geliefert werden. Dr. Eberhard Vorbrodt, Westberliner Arzt und Mitglied von »Pax Christi«, machte sich die Mühe, die Tagesmahlzeit auszuwiegen. Außer vier Scheiben Brot, 60 Gramm Butter, 25 Gramm Marmelade und einem Eckchen Schmelzkäse listete er 80 Gramm gekochtes Rindfleisch, 20 Gramm Frischwurst und 130 Gramm Kartoffeln auf — alles verpackt in 53 Gramm Aluminium und 28 Gramm Plastik. Rund 1.600 Kalorien enthalten die Portionen nach seiner Umrechnung, »das entspricht ungefähr der Hälfte des Kalorienbedarfs für einen erwachsenen Mann«. Folglich sei es nicht verwunderlich, wenn die Flüchtlinge über ständige Hungergefühle klagten. Müdigkeit, Gewichtsverlust und Infektanfälligkeit seien die Folgen einer solchen Ernährung, die zudem auch einen hohen Mangel an Eisen, Protein und Vitaminen aufweist.
Daß die Wut der Flüchtlinge berechtigt ist, räumte auch der Sprecher der Westberliner Gesundheits- und Sozialverwaltung, Thomas Gallon, ein. Die Unterkunft »erfüllt sicher nicht den Standard von Flüchtlingsheimen in West-Berlin«. Für die Betroffenen wenig tröstlich, doch ihr Protest zeigte erste Wirkung. Nach Angaben Gallons wird die Westberliner Sozialverwaltung für Bekleidungshilfe und Monatskarten sorgen. Wie die Heimleitung gegenüber der taz erklärte, werde die Großküche umgehend aufgefordert, die Qualität des Essens zu verbessern. anb
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