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ENN DIE SCHILDKRÖTE STIRBT, STIRBT DIE WELT

Weil Europa im Milliardengeschäft

des internationalen Tourismus

zurückfällt, versucht die EG das Reisen in und nach Europa attraktiver zu machen. Eigens dazu kreierten die Eurokraten

das „Europäische Jahr des Tourismus“,

das von etablierten wie von

alternativen Reiseunternehmern

und dem Europaparlament selbst

als Flopp eingestuft wird

AUSBRÜSSELMICHAELBULLARD

Schon die alten Inder wußten es: Die Welt ruht auf den Rücken dreier Elefanten, die wiederum von einer gigantischen Schildkröte getragen werden. Wenn die Schildkröte stirbt, stirbt auch die Welt — ein schlechtes Omen für das aufstrebende Europa, dessen Touristen auch im „Europäischen Jahr des Tourismus“ dazu beitrugen, daß die vorsintflutlichen Reptilien bald nicht mehr von dieser Welt sind. Vor allem deutsche und britische Touristen machen den Meeresschildkröten mit dem liebevollen Namen Caretta caretta den Südstrand von Zakinthos — einem ihrer letzten Zufluchtsorte — streitig, den diese dringend zur Fortpflanzung benötigen. Jedes Jahr in den Nächten zwischen Ende Mai und Anfang Juli landen die gut 100 Kilogramm schweren weiblichen Tiere auf der westgriechischen Insel und vergraben dort ihre Eier. Acht Wochen später wimmelt es am Strand von kleinen Schildkrötenbabies, die zurück ins Meer krabbeln.

Daß mit diesem urzeitlichen Schauspiel ein Geschäft zu machen ist, hatten die Land- und Hotelbesitzer der Gegend schnell kapiert. Deshalb willigten sie nach langen Auseinandersetzungen mit einer auch von der EG unterstützten Gruppe Tierschützern in eine Reihe von Schutzmaßnahmen für die Schildkröten ein. Gleichzeitig aber planten sie den Bau mehrerer Touristenzentren in Strandnähe. Dies sollte mit Entschädigungszahlungen aus der EG-Kasse gestoppt werden. Die griechische Regierung leitete die Gelder jedoch nicht weiter. Folge: Trotz EG-Richtlinie und präsidialem Dekret wurden Bars, Strandcafés und Hotels gebaut. Und inzwischen sind nicht nur die Caretta carettas bedroht, sondern auch die Tierschützer. Mitte Juli wurden sie von bezahlten Schlägern überfallen, weil sie der touristengerechten Betreuung der Tiere im Wege stehen. Hatte es 1989 noch so ausgesehen, als ob auf Zankinthos ein historischer Kompromiß zwischen Mensch und Tier gefunden werden könnte, so wurden im „Jahr des Tourismus“ diese Hoffnungen zerstört.

Statt ihre eigenen Umweltschutzmaßnahmen ernst zu nehmen und beispielsweise den griechischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof zu verklagen, zahlte die EG auch dieses Jahr wieder der griechischen Regierung im Rahmen des Strukturfonds zur Entwicklung benachteiligter Gebiete Milliarden an Subventionsgeldern für touristische Projekte.

Entwicklungsstrategie Tourismus

1990 ist das „Europäische Jahr des Tourismus“, das helfen soll, besonders den ländlichen Raum Europas touristisch zu erschließen. „Seine Reichtümer, seine Authentizität, seine regionalen Kulturen, sein architektonisches Erbe“ würden zur touristischen Entwicklung des ländlichen Raums beitragen, so der für Fremdenverkehr zuständige EG- Kommissar Antonio Cardosa e Cunha am Welttag des Tourismus Ende September. Dazu soll die Zusammenarbeit zwischen Tourismusfirmen, lokalen Dienstleistungsunternehmen und der für Tourismus zuständigen Abteilung der EG-Kommission verbessert oder überhaupt erst initiiert werden. Anlaß der Veranstaltung, zu der Hunderte von Journalisten, Eurokraten und Tourismus-Manager in die finnische Hauptstadt Helsinki einfielen: In Insiderkreisen wird zwar das Geschäft mit dem Reisen als Branche der Zukunft gefeiert (Jahresumsatz 2.000 Milliarden Dollar), doch der europäische Fremdenverkehr verliert Marktanteile.

Während der internationale Tourismus im vergangenen Jahr um durchschnittlich fast acht Prozent zulegte, berichtete Cardosa e Cunha, habe das Geschäft mit dem Reisen in Europa nur um fünf Prozent zugenommen. Von den jährlich 350 Millionen weltweit Reisenden sind 60 Prozent Europäer, die die Dienstleistungen von 7,5 Millionen Menschen in Anspruch nehmen. Doch die bis vor kurzem immer günstigeren Reisepreise schürten in letzter Zeit das Fernweh. Und das nicht nur bei deutschen Urlaubern, die es verstärkt in die Karibik, nach Kenia und nach Fernost zieht. Auch bei den europäischen Nachbarn ist der Drang in andere Kontinente zu beobachten. Zudem bleiben die US-Amerikaner aus.

Euro-Tourismus total

Das Werbejahr sollte nun dazu dienen, Europa als Reiseziel anzupreisen. „Das ,Europäische Jahr des Tourismus‘ soll den kulturellen Austausch zwischen den Mitgliedsstaaten fördern und bei den Bürgern Verständnis für Tradition und Lebensart der jeweiligen Nachbarländer wecken.“ Damit, so der offizielle Werbeprospekt, „leistet es einen wichtigen Beitrag zum ,Europa der Bürger‘, das eine tragende Säule für den bis Ende 1992 angestrebten grenzenlosen Binnenmarkt darstellt.“ Angestrebt ist Euro-Tourismus total: Keine zeitraubenden Grenzkontrollen verderben dann den freien Urlaubsgenuß, keine unerwarteten Zollkontrollen die Schmuggelfreuden. Dazu passend das Symbol: Ein weinrot weißlich-blauer Vogel fliegt — tourismustrunken — der Sonne entgegen, ein Kranz von neun Sternen leuchtet ihm den Weg.

Für das Werbeprojekt ließen EG- Ministerrat und Europaparlament rund zehn Milliarden DM springen. Mit den Geldern sollten Tourismusprojekte in den zwölf Mitgliedsländern der EG und den sieben Staaten der Europäischen Freihandelszone (EFTA) gefördert werden. Aufgeteilt auf 19 Länder blieb allerdings von den zehn Milliarden DM nicht mehr viel übrig. Zumal rund fünf Milliarden für Verwaltung und Eigenwerbung ausgegeben wurden, wie Claude Weinber vom Brüsseler Büro der internationalen Umweltorganisation „Friends of the Earth“ bemerkt. Gefördert wurden insgesamt 150 Projekte, darunter das Mega- Konzert „The Wall“ an der Berliner Mauer im Juli mit 600.000 DM, Wettbewerbe wie „Die sauberste Stadt Europas“, mehrere Segelregatten in Dänemark und Griechenland und Tourismusbörsen. Außerdem standen Musik- und Gastronomieveranstaltungen in Schottland, Schweden und Frankreich auf dem Programm der Tourismusplaner. Ein neues Brettspiel zum Thema Reisen durfte da ebensowenig fehlen wie das grenzüberschreitende Orgelfestival im norddeutschen Bunde.

Dilettantismus und Informationslücken

Welchen Eindruck die Initiative auf die Reisebranche machte, läßt sich an den zusätzlich gefundenen Sponsoren ablesen: Lediglich der europäische Ableger des US-amerikanischen Kunststoffgeld-Giganten American Express ließ sich überreden, weitere elf Millionen DM zuzuschießen — mit dem Hintergedanken, im hart umkämpften europäischen Markt des bargeldlosen Zahlungsverkehrs verlorenes Terrain zurückzuerobern. Diesseits des Atlantiks waren die Reiseunternehmen skeptischer. Der Ansatz sei „dilettantisch“, so die NUR-Touristik, weil nur regionale Kleinprojekte unterstützt würden. Der Trend der Zeit hingegen ginge gerade für die deutschen Unternehmen, die die teuersten Anbieter in Europa sind, in die entgegengesetzte Richtung: Sie müßten die Preise und deshalb die Kosten senken — durch Rationalisierung und Fusion mit anderen, meist ausländischen Anbietern.

Doch auch die Alternativprojekte ihrerseits merkten von dem angeblichen Subventionsregen wenig. Zwar sollte mit dem durch Ballonfahrten und Fahrradrennen werbemäßig aufgemotzten „Europäischen Jahr des Tourismus“ gefördert werden, so der Tourismus-Experte der Eurogrünen, Paul Beckmmann, aber nur einige Alternativanbieter erfuhren überhaupt von der Möglichkeit, Gelder für ihre Projekte zu beantragen. Unterstützt wurden: Ein alternatives Tourismusprojekt der „Freunde der Erde“ auf Zypern mit 40.000 DM unterstützt, der vom Starnberger Studienkreis für Tourismus initiierte Wettbewerb „Jugend reist und lernt Europa kennen“ sowie das Informationsnetz „Ecotrans“ zum Thema Umwelt und Tourismus, das der Studienkreis zusammen mit einer holländischen Umweltschutzorganisation aufbaut.Außerdem: ökologische Klassenfahrten, Familienfreizeiten und Radwanderungen im Saarland.

Auch das Europaparlament war von der Ausgestaltung der Tourismusförderung durch die EG-Kommission nicht sonderlich angetan. Ausgerechnet im Jahr des Tourismus fand die sozialdemokratische Abgeordnete Barbara Simons heraus, daß die Kommission ein Projekt besonderer Art unterstützt: Mit Entwicklungshilfegeldern, die zum Aufbau von Joint ventures zwischen Klein- und Mittelstandsunternehmen der EG und der Dritten Welt gedacht sind, hatte Reisegigant NUR ein Hotel am Strand von Pan Buri in Thailand auf „Club“-Niveau renovieren lassen. Hierher reisen mit Vorliebe die sogenannten Sextouristen. Und der für Tourismus zuständige konservative Abgeordnete im Europaparlament, McMillan-Scott, schreibt in seinem Bericht über das Jahr des Tourismus: „Die Kommission hat in ihrer Gesamtheit dem Fremdenverkehr nur geringe Priorität eingeräumt. Vor allem der zuständige Vertreter der Kommission, Herr Cardosa e Cunha, scheint weder Zeit noch Interesse in die Entwicklung der gemeinschaftlichen Fremdenverkehrspolitik investiert zu haben.“

Vor allem, so die Euro-Grünen, müßten Strukturen geschaffen werden, die sanften Tourismus bevorzugen. Dabei jedoch auf die EG zu hoffen, ist vergebliche Liebesmüh, wie der Konflikt um die Caretta caretta zeigt. Die Binnenmarktfetischisten sind sich mit Millionen Euro-Reisenden einig: Schneller, weiter und öfter zur Sonne — dem Hautkrebs zum Trotz.

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