„Soll doch die KPdSU im AKW Tschernobyl leben“

■ Zu Besuch in Bremen: Sergej Kurikin, Historiker und Sekretär der ukrainischen Ökologiebewegung „Grüne Welt“

1987, ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl, gab es nur die ökologische „Initiativgruppe“ von etwa 20 Aktiven — in erster Linie Schriftsteller, Ökologen und Mitglieder der Akademie der Wissenschaften. Inzwischen ist die „Grüne Welt“ eine ukrainische Massenbewegung geworden, vereinigt etwa 90 Prozent aller grünen Gruppierungen und wurde offiziell anerkannt. Vor einem Monat schließlich entstand in ihren Reihen die erste grüne Partei der Ukraine.

Sergej Kurikin, Historiker und Sekretär der Assoziation, schätzt, daß die Mitgliederzahlen zwischen 10.000 und einer halben Million schwanken. Genau könne das keiner sagen, da es bei ihnen weder Beitragszahlungen noch Mitgliedsausweise gibt. Zusammen mit 30 VertreterInnen verschiedener ukrainischer Jugendorganisationen war Sergej Kurikin zwei Wochen lang als Gast des Landesjugendringes in Bremen.

taz: Was sagt die „Grüne Welt“ dazu, daß in Tschernobyl noch immer drei Reaktoren in Betrieb sind?

Sergej Kurikin: Diese Frage ist sehr kompliziert. Die drei Reaktoren laufen nur deshalb weiter, weil das AKW von Tschernobyl, genau wie alle anderen, direkt von Moskau aus gelenkt wird. Das gleiche gilt für die 30-Kilometer-Zone um das Kraftwerk herum. Offiziell wird sie von einer sogenannten Produktionsgemeinschaft mit Namen „Kombinat“ verwaltet, faktisch aber von Moskau. Deshalb können wir die Frage, ob das AKW geschlossen wird, auch nur dann beantworten, wenn es vollständig der ukrainischen Regierung zur Kontrolle übergeben wird. Die hat bereits beschlossen, daß die Reaktoren abgeschaltet werden. Aber nach der geltenden Verfassung der UdSSR bedeutet die Meinung unseres Parlamentes recht wenig.

Die Forderungen des Parlamentes, das ist die eine Sache, was aber hat Ihre Organisation inzwischen getan?

Das letzte Beispiel: Am 22. April war der „Tag der Erde“, das ist eine weltweite, ökologische Aktion. In Kiew wurde sie zu einer politischen Demonstration, an der um die 40.000 Menschen teilnahmen. Und Tschernobyl war das zentrale Thema. Dort entstand die Losung: „Soll doch die KPdSU im AKW von Tschernobyl leben“. Aktionen gibt es genug. Die Leute verstehen den politischen Hintergrund sehr gut.

Was steckt dahinter, daß Moskau nicht bereit ist, Tschernobyl abzuschalten?

Die ukrainischen Atomkraftwerke produzieren vor allem für den Export.

Tschernobyl etwa auch?

Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, aber es kompensiert die Energieengpässe, die durch den Export entstehen. Die Devisen aus dem Verkauf gehen nach Moskau. Die Ukraine erhält nichts davon. Mehr noch: 65 Millionen Rubel aus dem Fonds, der gebildet wurde, um die Folgen der Havarie zu beseitigen, sind dem Ministerium für Atomenergie übergeben worden, um die Ausgaben zu decken, die durch die Katastrophe entstanden sind. Das heißt, den Schuldigen wurde das Geld übergeben, das von den Leuten hier gesammelt wurde. Worüber wir auch reden, welches ökologische Problem wir auch immer berühren, angefangen bei Tschernobyl bis zu den Problemen des Dnepr, das alles sind Folgen des Kolonialsystems.

Was meinen Sie damit?

Faktisch sind wir doch eine Kolonie, obwohl ich nicht sagen kann, daß wir Opfer von Rußland sind. Ich weiß, daß es in Rußland kein bißchen besser ist als in der Ukraine. Wir alle unterstehen dem sowjetischen System. Wir alle sind eine Kolonie, auch Rußland.

Zurück zur Atomenergie — welche Position hat die „Grüne Welt“ dazu?

Das ist einer der wichtigen Punkte unseres Programmes. Wir wissen natürlich, daß wir den Prozeß des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht zurückdrehen können. Auch können wir nicht innerhalb einer Stunde alle AKW's abschalten, das ist weder ökonomisch noch technisch möglich. Was wir wollen, ist, Schritt für Schritt die Atomenergie in der Ukraine zu reduzieren. Dafür haben wir auch die Unterstützung der Ukrainer.

Welche alternativen Energiequellen gäbe es in der Ukraine?

Eine alternative Energie ist das Energiesparen, eine andere rohstoffsparende Technologien.

Zum Beispiel?

Das Nutzen von Windenergie, Sonnenenergie und vor allem die kleinen Wasserkraftwerke. In der Ukraine gibt es etwa 300 davon, die ungenutzt zerfallen. Sie stehen an kleinen Flüssen, überfluten keine großen Landstriche und könnten beispielsweise den Bedarf der Dörfer decken. Die Windenergie allerdings befindet sich bei uns noch auf dem Null- Stand, obwohl wir die Möglichkeit hätten, sie genauso zu entwickeln wie in Friesland.

Wird bei ihnen auch darüber diskutiert, in welchen konkreten Schritten man den Einsatz von alternativer Energie vorantreiben könnte?

Ein erster Schritt könnte der Einsatz von umgebauten Kohlekraftwerken anstelle von AKW's seien. Heute benutzt man in unseren Kohlekraftwerken sehr primitive Methoden, wie das Verbrennen von Kohle, wobei eine enorme Menge Schadstoffe in die Luft geschleudert wird. Das war auch eines der Argumente für die AKW's, die angeblich sauberer seien.

Wie ist das mit der Sonnenenergie?

Das wäre auch eine Möglichkeit. In den südlichen Regionen der Ukraine könnte die Sonnenenergie ohne jegliche Schwierigkeiten entwickelt werden. All das ist nur eine Frage der Organisation und der Ausrichtung des staatlichen Programms. Aber das Programm der UdSSR beinhaltet in erster Linie die Entwicklung der Atomenergie. Da können wir schreien und Meetings abhalten, mit dem Kopf gegen die Wand laufen — und trotzdem wird alles in Moskau entschieden. Man kommt uns nur in dem Maße entgegen, wie wir das erzwingen.

Haben Sie die ukrainische Unabhängigkeit ins Programm der grünen Partei geschrieben?

Nein, sie steht nicht drin. Und das war auch einer der Gründe, weshalb ich nicht in die Partei der Grünen eingetreten bin. Die hat einen Tag vor unserer Abreise nach Bremen ihren Gründungsparteitag abgehalten. Aber man hat bei uns anscheinend noch Angst, so direkt von der Unabhängigkeit zu reden. Deshalb stand auch in der ersten Variante des Programms, die im Mai in unserer Zeitung „grüne Welt“ veröffentlicht wurde, kein Wort über die Souveränität. Obwohl diejenigen, die das Programm zusammengestellt haben, die Souveränität für unabdingbar halten, das weiß ich genau! Sie haben sich aber nach der politischen Konjunktur gerichtet. Sie hatten einfach Angst.

Fragen und Übersetzung:

Birgit Ziegenhagen