: „Ich bin ein Liberaler“
■ Im Oktober 1988 formulierte Leonard Bernstein in der 'New York Times‘, während des Wahlkampfes zwischen Bush und Dukakis, sein politisches Glaubensbekenntnis
Gerade bin ich von einem zweimonatigen Europa- Aufenthalt zurückgekehrt. Dort verfolgte ich die US-Wahlkampagne mit großer Aufmerksamkeit. Ich war entsetzt: Unsere Wählerschaft ist passiv, die elementarsten Grundsätze demokratischen Denkens und Handelns sind einfach nicht vorhanden, unsere Sprache ist heruntergekommen, überall herrscht Schläfrigkeit, Gehirnwäsche und Desinformation.
Die meisten Europäer waren genauso entsetzt wie ich. Ich fing an, Alpträume über diese Wahlkampagne zu haben. Jede Nacht träumte ich ganze Reden, und jeden Morgen machte ich mir Notizen davon. Sie behandelten Themen wie Rassismus, die große Illusion des Frieden-und-Wohlstand-Geredes des Bush-Wahlkampfes, Boston Harbour oder die überholte Verrücktheit des Krieges. Und es ging um dieses böse Wort mit L — LIBERAL.
Ich möchte dieses Wort „liberal“ neu definieren. Ich möchte mich weder vor dem Wort drücken, noch mich angesichts seines rüden Mißbrauchs demütig niederwerfen, sondern es selbstbewußt erklären. Das Wort stammt vom lateinischen „liber“ ab, und das bedeutet „frei“ (es bedeutet auch „Buch“ und „Kind“, und das sind beides schöne Dinge).
Von „liberal“ kommen wir zu „liberty“ (Freiheit), und dafür hat die zivilisierte Welt in ihrer gesamten Geschichte gekämpft — mittels Reform oder Revolution, unsere eigene amerikanische Revolution eingeschlossen. George Washington war ein Revolutionär, auch Jefferson oder Franklin. Sie und die anderen Gründerväter kämpften vor allem für die Freiheit, also waren sie alle Liberale.
Ein Liberaler ist ein Mann oder eine Frau oder ein Kind, der oder die oder das sich einen lichteren Tag, eine ruhigere Nacht und eine helle, unbegrenzte Zukunft wünscht. Was kann daran falsch sein? Nur das eine: Mächtige Interessen, die immer mehr und immer größere autoritäre Macht verlangten, haben das Wort erniedrigt, entwürdigt und mißbraucht. „Liberal“ ist ein Wort, das durch den gierigen, reaktionären Drang zur Tyrannei beschmutzt worden ist.
Ich nenne nur zwei Beispiele aus Dutzenden in unserem eigenen Amerika und in unserem eigenen Jahrhundert. Zuerst die verabscheuungswürdige „Rote Furcht“, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts von William Randolph Hearst in die Welt gesetzt wurde, und dann durch seine unzähligen Zeitungen und Zeitschriften zu einer Panik vergrößert wurde, in der jeder Mensch mit Bart als Bolschewist mit einer Bombe in der Hosentasche galt — einer Bombe, die uns galt — und in der jeder, der einen russischen Roman las, zum Verdächtigen und möglicherweise zum Landesverräter wurde.
Das zweite Beispiel, noch ekelhafter und unendlich gefährlicher, war der Aufstieg des McCarthyismus in den Fünfzigern — ein Aufstieg so stetig und stark, daß nur eine lange Fernsehanhörung den unsäglichen Senator aus Wisconsin als den machthungrigen Psychopathen entlarven konnte, der er war. Nie waren wir der Tyrannei so nahe wie damals.
Tyrannei? In unserer freien, schönen, demokratischen Republik? Ja. Sie ist möglich und sogar wahrscheinlich, und daher müssen wir jederzeit auf der Hut sein. Die Tyrannei nimmt viele Formen an: Den Fabrikarbeiter und den Bettelarmen zu besteuern, damit der Reiche noch reicher wird — das ist Tyrannei. Bei jeder Aufregung um eine Ölpipeline zum Krieg aufzurufen (während gleichzeitig geheime Geiseldeals getätigt werden); chauvinistische Parolen über Rüstung und Star Wars zu verbreiten; unserer aufgeputschten Kreditkartenwirtschaft die Rüstungsindustrie als Heilmittel zu verschreiben; einen schwindelerregenden Anteil unseres Staatshaushalts für Waffen anstatt für Schulen, Krankenhäuser, kulturelle Einrichtungen, Pflege der Gebrechlichen und Schwachen auszugeben — alles dies sind Formen der Tyrannei.
Wer kämpfte für die Freiheit der Sklaven? Liberale. Wer hat die Kopfsteuer abgeschafft? Liberale. Wer kämpfte für die Frauenrechte, die Bürgerrechte, für die freie öffentliche Schulbildung? Liberale. Wer wehrt sich gegen unterbezahlte Heimarbeit, Kinderarbeit, Rassismus, Bigotterie? Die Liebhaber der Freiheit, die Feinde der Tyrannei: eben Liberale.
Alles dies träumte ich und schrieb es nieder. Und ich träumte, Michael Dukakis hätte gesprochen: „Ich bin stolz, daß man mich einen Liberalen nennt. Ich bin weder rot noch bin ich Anarchist, und ich habe auch keine Bombe in der Hosentasche.
Ich liebe mein Vaterland — und zwar so sehr, daß ich meine ganze Kraft dafür einsetze, ihm bessere Tage zu geben, ruhigere Nächte und eine leuchtende, offene Zukunft. Und ich stelle mich hinter die Worte dieses herrlichen Liberalen, Thomas Jefferson, die auf seinem Denkmal in Washington in Stein gemeißelt sind: „Ich habe auf Gottes Altar jeder Form der Tyrannei über die Menschen ewige Feindschaft geschworen. Auch ich bin ein Liberaler!“
Aus: 'New York Times‘, 30. Oktober 1988.
Übersetzung: Dominic Johnson
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