„Kohl ist ein Bolschewik!“

■ 4+2=0 — Was Letten und Litauer über die deutsche Vereinigung denken KURZESSAY

Alfredas Tytmonas ist Abgeordneter der litauischen Unabhängigkeitsbewegung „Sajudis“ im Stadtrat von Klaipeda (Memel) udn als Begründer der Thomas-Mann-Gesellschaft in Litauen gewiß unverdächtig, deutschenfeindlich zu sein. Doch beim Thema deutsche Einigung gerät er so sehr in Fahrt, daß er beinahe seinen armenischen Cognac verschüttete: „Kohl ist ein Bolschewik!“ ereifert er sich. „Wieso?“ frage ich ihn amüsiert — denn eben noch hatte sich Tytmonas, früher KP-Mitglied, als „Sozialdemokrat“ bezeichnet. „Weil er diesem Gorbatschow Milliarden in den Hintern bläst!“ knurrt er. „Die Deutschen vereinigen sich und überlassen wieder einmal wie 1939 das Baltikum den Russen.“

So drastisch wie Tytmonas drücken sich nur wenige aus, aber landauf, landab sind die Balten einhellig der Meinung, daß die deutschen Politiker nur noch die Einigung ihres Landes im Blick haben und auf diesem Altar die Unterstützung für die baltischen Völker opfern. Tatsächlich gibt es im deutsch-sowjetischen Vertrag keinerlei Hinweise auf das Baltikum, im Gegenteil: die im Artikel 2 des Vertrages gebrauchte Formulierung von „der Unverletzlichkeit aller Grenzen in Europa“ könnte von Moskau als verbindliche Anerkennung des Status quo im Baltikum interpretiert werden. Damit wird die baltische Frage zu einer innersowjetischen Angelegenheit gemacht, und wir sind in unserem Unabhängigkeitsstreben um Jahre zurückgeworfen“, dramatisiert Andrus Kubilas, Sekretär des Nationalen Rates von „Sajudis“ in Vilnius, die außenpolitische Lage. „Mit der Vereinigung Deutschlands ist für die Deutschen und für die gesamte Weltöffentlichkeit ein Schlußstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen. Dabei wird ganz vergessen, daß unsere Besetzung durch die Sowjets noch immer nicht rückgängig gemacht worden ist: Wir bleiben weiter die Opfer des Zweiten Weltkrieges.“ In den Worten von Kubilas schwingt die Enttäuschung über die Reaktion des Westens auf die Unabhängigkeitserklärungen mit. Die baltische Öffentlichkeit registriert in diesen Wochen mit Bitterkeit, daß bei dem in Aussicht stehenden Interessenausgleich USA- UdSSR, der gemeinsamen Front gegen die Husseins der Dritten Welt, die baltische Frage ausgeklammert wird.

Mitverantwortung für den Hitler-Stalin-Pakt

Nuancierter, aber nicht weniger emotional beurteilt Andrejs Pantelejevs, Physiker und „Volksfront“- Abgeordneter im lettischen Parlament das Ost-West-Verhältnis. Für ihn ist selbstverständlich, daß die Deutschen sich vorrangig ihrer Einigung widmen und alles tun, um Gorbatschow zu unterstützen, bis der Abzug der sowjetischen Truppen unter Dach und Fach ist. „Mich wundert nur“, sagt Pantelejevs, „daß alle meine westdeutschen Gesprächspartner die Bedeutung der deutschen Einigung herunterspielen wollen — ich habe fast den Eindruch, daß nur Kohl sich für dieses Thema erwärmt. Das ist paradox. In Wirklichkeit sind die Deutschen unbewußt mit nichts anderem als mit der Einigung beschäftigt. Wo aber bleibt der Sinn der Deutschen für ihre Mitverantwortung am Ribbentrop-Molotow-Vertrag und damit für die heutige Situation?“ Und noch ein Paradoxon hat Pantelejews bei seinen Besuchen in Westdeutschland ausgemacht: „die Deutschen betonen immer wieder, daß sie Demokraten sind und Anhänger der Selbstbestimmung der Völker. Sie wissen auch viel mehr über die Situation im Baltikum als früher und nehmen im Herzen Partei für unsere Sache. Aber sie lenken sofort das Gespräch auf die Situation in Lateinamerika und Afrika. Wenn ich sie aber hartnäckig daran erinnere, daß es gleich in der Nähe von Deutschland kolonisierte Völker gibt — dann wollen sie das Gespräch lieber beenden.“

Politisch hält Pantelejevs die einseitige Unterstützung Gorbatschows für falsch. Wie die Sajudis-Vertreter, die Gorbi einen „innenpolitischen Denkmalspfleger“ nennen, setzt er auf Jelzins radikalen Kurs. „Was ihr im Westen nicht verstehen könnt: Wir leben hier seit Jahren in Agonie, und jeder Tag ohne Reformen macht es schlimmer.“ Die Gorbi-Manie der Deutschen ist auch den etwa 40 litauischen Teilnemern einer Diskussion in Nida (Nidden) auf der Kurischen Nehrung ein Rätsel. „Warum unterstützt ihr so wenig uns Balten gegen Gorbatschow, der uns mit Boykott und Panzern bedroht?“ lautet ihre gleichsam im Chor vorgetragene Frage. Nicht nur die Haltung zu Gorbatschow, sondern die generell in Deutschland zu beobachtende russophile Haltung stößt im Baltikum auf Unverständnis, wie umgekehrt die antirussischen Äußerungen vieler Balten den westlichen Besucher vor den Kopf stoßen. „Bei internationalen Treffen, vor allem mit den westdeutschen Grünen, gibt es immer wieder dasselbe Kommunikationsproblem: die Westler verstehen unsere nationale Politik nicht“, berichtet Andris Kesteris von der Lettischen Grünen Partei. „Aber ihr könnt doch die Türken bei euch nicht mit den Russen hier vergleichen. Die Türken zwingen euch nicht, türkisch zu sprechen oder Allah anzubeten — die Sowjets aber haben versucht, ihre Staatsreligion Leninismus uns aufzuwingen.“

Angesichts der Achse Bonn-Moskau und ihrer glänzenden Aussichten 1990 an den Hitler-Stalin-Pakt 1939 und den Kolonialismus der Russen erinnert zu werden, ist tatsächlich unangenehm. So jedenfalls muß die zurückhaltende Reaktion der Öffentlichkeit in Deutschland interpretiert werden — bezeichnenderweise gibt es kein einziges Solidaritätskomitee, wie sie für afrikanische und lateinamerikanische Länder zu Dutzenden existieren. Es ist die antirussische Attitüde, die uns Deutschen nicht in den Kram paßt. Wir haben in Gorbatschow nach Jahrzehnten den „guten Russen“ wiederentdeckt, dürfen uns endlich russophil zeigen, unsere Über-Nachbarn lieben (wie es sich unter Völkern gehört). Unser in Jahrzehnten und mehreren Generationen aufgespeichertes schlechtes Gewissen, unsere verdrängte Scham über die Verbrechen, die wir Deutschen an den Russen verübt haben, findet nun das ersehnte Ventil. Ähnlich wie wir nach dem Kriege uns gegenseitig vor Philosemitismus und proisraelischer Politik überboten (bis 1967 zumindest), dürfen wir endlich auch zu den Russen karitativ sein. Bewußt und unbewußt wird damit die Einstellung verfestigt, daß die Slawen es ohne uns sowieso zu nichts bringen werden, aber da wir Deutschen nach dem Kriege uns gerne im Mäntelchen des barmherzigen Samariters sehen, verschenken wir Milliarden — und vereinigen uns guten Gewissens.

Die Balten zwischen Scylla und Charybdis

Aus dieser Haltung erwächst eine gewisse Tragik für die Balten, und wir Deutschen verscherzen uns die in erstaunlichem Maße vorhandenen Sympathien. „Was die Deutschen 700 Jahre lang vergeblich versucht haben, nämlich die Liebe der Balten zu erringen, haben die Russen 1940 innerhalb von zwei Wochen erreicht“, kolportiert Peters Krupnikovs, Professor für Geschichte in Riga, ein verbreitetes Bonmot. (Nach ihrem Einmarsch 1940 ermordeten und deportierten die Sowjets Zehntausende im Baltikum). Seit Jahrhunderten zwischen Russen und Deutschen, zwischen Scylla und Charybdis eingeklemmt, neigen Letten, Litauer und Esten jetzt wieder zu Charybdis, also den Deutschen. Statt KZs und Wunderwaffen erhoffen sie sich zur Abwechslung allerdings ein Wirtschaftswunder. Manche, besonders die Litauer im ehemaligen Memelland, gehen davon aus, daß die Deutschen in nicht allzu ferner Zukunft Kaliningrad in Königsberg zurückverwandeln. Ganz geheuer ist ihnen angesichts der Vereinigung allerdings nicht — vielleicht deshalb müssen alle betonen, wie normal und verständlich sie das finden. Einer meiner Gesprächspartner jedoch fühlte sich bemüßigt, mir ganz persönlich „alles Gute für die deutsche Vereinigung zu wünschen“: Boris Gaft, Vorsitzender der jüdischen „Lettisch-Israelischen Freundschaftsgesellschaft“. Um beim Abschied hinzuzufügen: „Ich glaube, daß die Vereinigung Deutschlands 1990 historisch noch bedeutsamer ist als Bismarcks Reichsgründung 1871!“ Frank Blohm