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Ein Schnitt in die Moderne

■ »Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe« im Sputnik

Serienmord heute ist ein anonymer Rausch. Die mobile Gesellschaft erlaubt es dem Ausführenden, seine Tätigkeit über einen ganzen Kontinent zu verstreuen. Oft ist es unmöglich, einzelne Arbeiten eines Serienmörders miteinander in Verbindung zu bringen. No- name-Produkte sind auch in diesem Bereich beherrschend geworden. Nur wenige Serienkiller bestehen noch auf ein örtlich klar umrissenes Betätigungsfeld, eine festgelegte Zielgruppe und eine individuelle, wiedererkennbare Arbeitsweise, die ihnen Identität verschafft.

Zu den letzten Vertretern des Serienmordes, die trotz industrieller Produktionsweise den bürgerlichen Ideen von Identität und Individualität nahestehen, gehören beispielsweise der Sternzeichenkiller von New York, der Liebespaarmörder von Florenz und mit Abstrichen der Hammermörder von Frankfurt. Am Anfang dieser Reihe von Mördern, die sich einen Namen machen konnten, steht Jack The Ripper aus London, der im damals fortgeschrittensten kapitalistischen Land den Akkord in die Welt des Tötens einführte. Einige Jahrzehnte später war es der Hannoveraner Schlachtermeister Hamann, der im hochentwickelten Deutschland die gesellschaftlichen Verwertungs- und Verwurstungsstrategien radikal aufgriff und den Serienmord als persönliche Ausdrucksform weiter vorantrieb.

Ein Vorläufer moderner Serienmörder ist Pierre Rivière. Im normannischen Dorf La Faucterie erstach er am 3. Juni 1835 mit Hilfe eines Gartenmessers seine Mutter, seine Schwester und seinen Bruder. Während der Gedanke des Mehrfachmordes seiner Zeit weit voraus ist, wurzelt die nichtserielle Ausführung noch im tiefsten bäuerlichen Milieu. Arbeiten erledigt man dort auf einen Schlag. Die Ernte wird an einem Tag eingebracht, wer weiß, ob das Wetter morgen noch gut ist. Die Arbeitsweise einer Manufaktur ist dem Bauernjungen Pierre Rivière noch vollkommen fremd. Ebenso wie der identitätsstiftende Blutrausch im ausgehenden 20. Jahrhundert. Rivières Motivation entstammt vielmehr einer religiös-rachsüchtigen Gemengelage. Gott selbst hat ihm die Lizenz zum Töten erteilt. Als ältester Sohn soll und will er den von der Mutter jahrelang gedemütigten Vater rächen. In einer vorauseilenden Beichte versucht er seine Gründe schriftlich niederzulegen, und brav katholisch plant er, die sowohl erlösende Tat (erlöse uns von dem Bösen, hier Mutter) wie die finale Bestrafungsaktion im Feiertagsgewand zu begehen. Pierre Rivière markiert mit seinem Gartenmesser die Schnittstelle zwischen Mittelalter und Moderne.

Doch auch der französische Justizapparat befindet sich im Umbruch. Er soll nicht mehr länger allein der Repression dienen. Es geht zunehmend um Erfassung, Aufzeichnung und Katalogisierung. Verbrechen sind Krankheiten, denen man mit wissenschaftlicher Methodik auf die Spur kommt. Täter werden zu Hygieneproblemen, an denen man unermüdlich arbeitet. Pierre Rivière wird darum zum kriminalistischen Untersuchungsgegenstand der französischen Justiz. Akribisch werden Verhörprotokolle angefertigt und Dorfbewohner reihum befragt, um das zu erhalten, was man heutzutage ein Persönlichkeitsprofil nennt. Und schließlich geben sie ihrem Forschungsobjekt Papier und Tinte in die Hand, damit er einen Bericht über Motiv und Ausführung verfassen kann.

Der Wille zur Erfassung und Aufzeichnung produzierte im vorliegenden Fall haufenweise Material. 1973 haben Michel Foucault und ein Wissenschaftlerteam damit und darüber ein Buch geschrieben. René Allio hat den Mordfall drei Jahre später verfilmt. Nicht als spannungsgeladenen Krimi, sondern als materialreiche ethnologische Analyse, die sich auf die Zeugenaussagen der Dorfbewohner und Rivières Eigenbericht stützt. René Allio inszeniert so, wie Pierre Rivière die Welt gesehen hat. Das Leben ist eine einzige Mühsal und die Mutter ein schnatterhafter Quälgeist, dem man letztendlich nur per Totschlag das Maul stopfen kann. Töten oder standhalten — dazwischen gibt es nichts. Dralle

Ich, Pierre Rivière, der ich meine Mutter, meine Schwester und meinen Bruder getötet habe (OF). Frankreich 1986, 130 Minuten; ab heute im Sputnik Südstern, Hasenheide, Berlin 61.

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