piwik no script img

Immer mehr Junkies sterben

■ Jeden dritten Tag wird ein toter Fixer gefunden/ Für die Gründe gibt es keine eindeutige Erklärung/ Wahrscheinlich ist es das Leben der Junkies im Chaos und unter der Kriminalisierung/ Viele sind in einer schlimmen körperlichen Verfassung

Berlin. Noch nie sind in Berlin so viele Fixer gestorben wie in diesem Jahr. Statistisch gesehen jeden dritten Tag findet die Polizei derzeit irgendwo in West-Berlin einen toten Junkie. Sie liegen einsam in heruntergekommenen Behausungen, in öffentlichen Klos, in Absteigen, auf Straßen, in Grünanlagen. Gestern war es in einer Kneipe in Kreuzberg der 105. Drogentote in diesem Jahr: 1989 starben insgesamt 94, 1988 80, 1987 41... Warum so viele Junkies sterben, kann von den Fachleuten niemand abschließend beantworten. Vieles deutet jedoch darauf hin, daß sich langjährige Heroingebraucher mittlerweile in einer elenden körperlichen Verfassung befinden. Seit Beginn der traurigen Statistik im Jahr 1971 sind nunmehr 1.025 junge Menschen in Berlin wegen harter Drogen umgekommen.

Von den 105 Drogentoten des Jahres 1990 ist vermutlich keiner freiwillig gestorben. Nach den Ermittlungen der Polizei gibt es wie schon im Vorjahr in keinem einzigen Fall Hinweise auf eine Selbsttötung aus Verzweiflung. Nach den Obduktionsergebnissen, die Kriminalrat Engler von der Drogenfahndung vorliegen, hatten rund 50 Prozent der Opfer eine reine Heroinüberdosis im Körper, 27 hatten unmittelbar vor ihrem Tod eine Kombination von Heroin und Tabletten eingenommen, 16 hatten Alkohol getrunken und Heroin gespritzt, einige sogar alle drei Möglichkeiten kombiniert. Das berüchtigte Crack, aber auch sogenannte synthetische Drogen seien dagegen in Berlin noch nicht aufgetaucht, berichtet Engler.

Unseriös handelt, wer nun eine neue Drogenwelle für Berlin herbeiredet. Zum einen liegt Berlin mit diesen Zahlen genau im derzeitigen Bundestrend. Zum anderen handelt es sich nach den Akten der Kripo bei den Toten in erster Linie um »Altfixer«, deren Durchschnittstodesalter seit Anfang der 80er Jahre kontinuierlich von etwa 24 auf 29 Jahre gestiegen ist.

Kriminalrat Engler von der Kripo verneinte auf Anfrage, daß in Berlin derzeit besonders reiner Stoff herumgehe — ein immer wieder kursierendes Szenegerücht. Auch hochgiftige Strychninbeimengungen habe man bisher nicht feststellen können. Als bedenklich wertet man bei der Kripo dagegen den Trend zu »Mischtoxikationen«. Gang und gäbe sind bei den Fixern mittlerweile Tabletten als Heroinersatz, die nicht unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Besonders beliebt: eigentlich alltägliche Hustenmittel, die Codein enthalten. »Die Leute nehmen wirklich gleich eine Handvoll davon ein«, berichtet Michael Hoffmann-Bayer vom Drogennotdienst in der Ansbacher Straße. Er übt scharfe Kritik an jenen szenebekannten Ärzten, die solche Mittel und Psychopharmaka auf Privatrezept relativ gedankenlos verschreiben. Die Fixer wiederum bunkerten die Mittel, um Entzugserscheinungen auszugleichen. Kommen Heroin und solche Medikamente zusammen, könne es zum Schlimmsten kommen. Therapeutisch, so Hoffmann-Bayer, könnten sich diese Ärzte mit der Verabreichung der Mittel an ihre Patienten »aus unserer Sicht nichts erhoffen«. Für ihn ist die ansteigende Zahl von Drogentoten ein Indiz dafür, daß die Hilfen für die Süchtigen in Berlin noch längst nicht ausreichen.

Nach Kripo-Schätzungen gibt es in Berlin 7- bis 8.000 Heroinabhängige. Viele von ihnen haben wahre Odysseen durch Entzugseinrichtungen, Projekte und Knäste hinter sich und jegliche Hoffnung verloren. Und wenn nicht, dann verzögern noch immer monatelange Wartezeiten auf Therapien und Zwangsaufenthalte in Knästen ihre Ausstiegsversuche. Dies bedeutet: Sie müssen in der Szene leben, sie müssen fixen — und dabei dank unseres Strafrechts stets in der Illegalität leben. Zwar versichert auch der Kripo- Mann Engler: »Wir wollen keine Fixer jagen, das sind Leute, die Hilfe brauchen« — ein polizeilicher Strafverfolgungszwang besteht jedoch nach wie vor.

Das Leben der Junkies im Chaos ist wohl der plausibelste Erklärungsversuch für die derzeitige Todeswelle. Berlins einzige (!) Ärztin, die für Heroinsüchtige in einem sogenannten niedrigschwelligen Szeneladen ohne alle Formalitäten zu erreichen ist, Gabriele Bellmann vom STRASS-Laden an der Yorckstraße, beobachtet derzeit bei vielen ihrer Besucher eine schlimme körperliche Verfassung. »Möglicherweise nimmt die körperliche Verelendung in einem Maße zu, daß schon die normale Dosis toxisch wird«, sagt sie. Genaue Untersuchungen hierüber gebe es aber noch nicht. Für ihre Kollegin Cornelia Freiberg haben deshalb niedrigschwellige Angebote eine besondere Bedeutung, sollen sie doch »eine weitere Verelendung der Junkies verhindern und zur Stabilisierung ihrer Lebensverhältnisse beitragen«. Im STRASS-Laden, der wie der Drogennotdienst vom Verein »Notdienst für Suchtmittelgefährdete und -abhängige« betrieben wird, widmet man sich deshalb ganz dem schweren Alltag der Süchtigen. Von den Besuchern wird bewußt nicht erwartet, daß sie clean sind. Den Teller Suppe gibt's für 20 Pfennig, wer will, kann duschen, die Waschmaschine benutzen oder sich aufwärmen — aber eben auch das Gespräch mit der Ärztin suchen oder sich über Ausstiegsmöglichkeiten beraten lassen. Daürber hinaus gehen die MitarbeiterInnen regelmäßig in die Szene.

Wenn es überhaupt Möglichkeiten gibt, die Zahl der Toten wieder zu senken, dann liegen sie in solchen Angeboten. Senatorin Anne Klein (AL), deren erklärtes Ziel der Ausbau solcher Hilfen ist, gibt dabei zu bedenken, daß Staat und Gesellschaft auf lange Sicht an einer Liberalisierung des derzeitigen Rechts nicht mehr vorbeikommen. Am Montag und Dienstag veranstaltet die Senatorin deshalb im Rathaus Schöneberg einen Fachkongreß zum Thema Entkriminalisierung/Legalisierung mit Experten aus dem In- und Ausland. Thomas Kuppinger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen