: Boris—ganz unten
■ Der Mann, der in Monte Carlo Wallraff spielt PRESS-SCHLAG
Ach, sagen Sie, der Typ da drüben am Nebentisch kommt Ihnen auch so bekannt vor? Er erinnert irgendwie — Moment, lassen sie mich überlegen — an äähhh, genau, irgendwie an Rainer Langhans. Ja sicher, der Langhans, der Kommunarde, der mit der Obermüller — oder war's Obermaier? — rumpoussiert hat? Ein bissel groß ist er, zu kräftig, aber müßte ja auch viel älter sein, der Langhans. Immerhin, die schönen Locken, die runde Brille, er hätt's sein können, vor zwanzig Jahren. Doch, doch!
Er war es aber nicht, der Langhans, der da im Straßencafé in Monte Carlo saß. Seit dem neuesten 'Stern‘ wissen wir: Es war der Boris. Verkleidet. Ali Becker. Boris ganz unten. Günter Becker. Oder war's der Boris Wallraff?
Egal, jedenfalls ist er eine arme Sau, der Mann aus Leimen. Wird in der Kneipe „keine Minute in Ruhe gelassen“. Außer er verkleidet sich. Und endlich, unerkannt, kann er sein, wie er will. Boris privat. Pöbelt erst mal den Kellner an. „Wein nur in Flaschen? Zieh keine Schau ab, ich will nur ein Glas vor die Nase.“ Der Ober weigert sich. Klarer Fall, die Tarnung ist perfekt. Ja, das ist das Leben, ein Underdog sein, „Freiheit pur“. Und im Vorbeigehen ein schreiendes Kind nachäffen. Sau sein! Leben! Leichtsinn! Lust!
Wo er's doch sonst so schwer hat. Niemals kann er sich betrinken. Nie wird er öffentlich in den Arsch getreten. Obwohl er sich so nach Schmerz sehnt. Denn Schmerz heißt Leben. Und überhaupt: Am liebsten wär er eine Frau. Kinder kriegen muß nämlich das größte Erlebnis sein. Bei ihm reicht's halt nur zum Langhans. Und auch das nur, „weil ich ein Schizophrener bin“. Ein „Provokateur“, tief in seinem „anderen Ich“, mit der Freiheitslust eines Rebellen, wenn man ihn nur ließe. Aber man läßt ihn nur Tennis spielen. Doch Auge in Auge mit dem Gegner, da kommt er darauf: „In the zone“, in Trance, jenseits von allem Wahrnehmbaren. Dann geht's ab: „Tong, tong, tong.“
Boris auf Drogen? Tickt's noch richtig, tick, tick, tick? Nein, Drogen braucht er nicht. Seine Droge ist das Publikum. Falsch, die Publikum, denn Publikum ist weiblich. „Im schönsten, erregendsten Sinne des Wortes weiblich.“ Schon wenn er auf den Court kommt, spürt er ihre Lust. Sie wollen seinen Körper, seine Seele, alles. Hilflos ist er den Gelüsten ausgeliefert. Läßt sich anstecken. Dann sein Coming-out: Er will sie besitzen, „bis wir dann in der Abendstimmung miteinander verschmolzen sind“.
Ali Becker hat sich in Schwung geredet. Nervös rutscht er hin und her. „Wissen Sie eigentlich, daß ich keine Unterhose anhabe?“ fragt er den neugierigen 'Stern‘-Reporter. Doch wir werden vorerst nicht erfahren, ob der es wußte oder nicht. Hier endet die Becker-Offenbarung, vorerst, Fortsetzung folgt. Ob im nächsten 'Stern‘ die Hüllen fallen, bleibt offen.
Ist auch nicht unser erstes Problem. Uns quält eine furchtbare Vermutung: Die neue Tücke des Alltags — Beckers Freiheit geht auf unsere Kosten! Denn wer kann sich heute noch unbefangen benehmen? Müssen wir nicht allüberall Boris vermuten? Können wir dem Punker die Haste-mal-ne-Mark verweigern? Den Hinterngrapscher von nebenan ohrfeigen? Voll Mißtrauen wird unser Blick auf die Hochschwangeren im Bus neben uns fallen. Hat er nicht gesagt...? Kein Zweifel, rote Bartstoppel unterm Make-up! Oder? Schon schmerzt das Adlerauge, das Mißtrauen sitzt tief. Vorsicht! Versteckter Boris! thöm/miß
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