: Schülerproteste in Frankreich
An Frankreichs Gymnasien grassiert die Unzufriedenheit/ Mangel an Aufsehern, Lehrern und Material/ Zweiklassensystem der Pariser Gymnasiasten/ Proteste begannen in Pariser Vorstädten ■ Aus Paris Bettina Kaps
Mehr Aufseher, mehr Disziplin, strengere Lehrer, sogar Polizisten in der Nähe der Schulen — diese Forderungen stammen nicht von Eltern oder Politikern, sondern von Gymnasiasten. Seit zwei Wochen demonstrieren französische Jugendliche für mehr Sicherheit und Ordnung an ihren Schulen.
Zündfunke war eine Serie von Gewalttaten an Schulen in den nördlichen und östlichen Vorstädten von Paris. Mitte Oktober wurde bekannt, daß ein 15jähriges Mädchen auf der Toilette des Gymnasiums von Saint- Ouen von drei Mitschülern vergewaltigt worden war. Niemand hatte die Hilferufe des Mädchens gehört. In der Schule kontrollieren zwei Aufseher das Treiben von 942 Schülern. Einen Tag später legten Jugendliche in den Schulen von Argenteuil und Saint-Denis Brände. In Bondy wurde ein Sportlehrer von einem 17jährigen während des Unterrichts angegriffen.
Zunächst äußerten die Schüler ihr Unbehagen nur sporadisch, hier und da gab es Demonstrationen. Diese Woche nun versuchte die Schülergewerkschaft FIDL (Féderation indépendante démocratique lycéenne), die der Anti-Rassismus-Bewegung „SOS-Racisme“ nahesteht, den Protest zu kanalisieren. Am Montag marschierten fünftausend Schüler vor das Pariser Bildungsministerium. Auf Initiative des Kommunistischen Jugendverbandes demonstrierten am Mittwoch erneut Jugendliche in der Hauptstadt. Am Freitag gingen mehrere zehntausend auf die Straße. Aus Solidarität gingen auch in Straßburg, Mulhouse, Lille und Valencienne die Gymnasiasten auf die Straße.
Deutlich wurde dabei, daß sich in Frankreich ein Zwei-Klassen-Schulsystem entwickelt hat: Obwohl zahlreiche Pariser Gymnasiasten der FIDL angehören, blieben sie den Protesten fern. Statt dessen marschierten Absolventen von rund dreißig Schulen aus den Vorstädten ins Stadtzentrum, darunter viele „Beurs“ und „Blacks“, die Kinder der arabischen und afrikanischen Einwanderer.
Die verunsicherten Schüler stammen aus den Sozialwohnungssiedlungen von Montreuil und Bondy, Argenteuil und Saint-Denis, aus Gegenden, wo die Arbeitslosenrate und die Kleinkriminalität besonders hoch sind. Die Schulen in diesen Schlafstädten wurden wie die tristen Betonblocks in den sechziger Jahren aus dem Boden gestampft, riesige graue Anlagen, die häufig zweitausend Schüler und mehr aufsaugen.
Eine verfehlte Bildungspolitik hat dazu beigetragen, daß sich diese Schulen zum Pulverfaß entwickelt haben. Vor fünf Jahren hatte die sozialistische Regierung beschlossen, achtzig Prozent eines Jahrgangs zum Abitur zu führen. Neue Strukturen und Programme wurden allerdings nicht geschaffen. Allein in diesem Jahr strömten sechzigtausend Schüler mehr in Gymnasien und „collèges“ (Mittelschulen) als im Vorjahr. Vor allem in den vorstädtischen Ballungsgebieten stechen die negativen Folgen der neuen Entwicklung ins Auge: Viele Gebäude sind überbelegt. Es fehlt an Raum und an Lehrern — 5.450 Lehrstellen in Frankreich sind unbesetzt. Die Klassen haben vierzig Schüler und mehr. Das Niveau ist oft niedrig, Lehrer und Schüler sind unmotiviert. Die Zukunftschancen der Jugendlichen sind düster. Sie wissen, daß ihr Abitur nicht viel wert ist und ihnen die guten Universitäten trotz Abiturs versperrt bleiben.
„Wir wollen keine Schulfabriken“, „Nein zur Ghetto-Schule“, lauten daher auch die Slogans der protestierenden Schüler. Sie haben kein theoretisches Konzept und verlangen nicht Reformen, sondern Geld und Personal. Die Zeit, in der die Schule an sich in Frage gestellt wurde, ist lange vorbei.
Schon 1986, als die Regierung Chirac von einer landesweiten Protestbewegung der Studenten gegen neue Prüfungsordnungen ernsthaft bedrängt wurde, zeigte sich eine neue Stoßrichtung: Das Unbehagen der Jugendlichen richtet sich dagegen, daß soziale Ungerechtigkeit und alltäglicher Rassismus durch die Schulen bestärkt werden. Auch damals ging die Bewegung von den Vorstädten im Norden und Osten von Paris aus, bevor sie auf ganz Frankreich übergriff.
Noch ist nicht abzusehen, ob diese Proteste sich ebenfalls zur großen Konfrontation entwickeln. Doch die Politiker zeigen sich alarmiert. Premierminister Rocard, Innenminister Joxe und Bildungsminister Jospin äußerten Verständnis und Sorge. Vorschläge zur Beseitigung der Misere hörten die Schüler von ihnen bislang jedoch nicht.
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