: Vorwärts immer, rückwärts nimmer
■ Auf der Sitzung des PDS-Vorstandes am Samstag blieben entscheidende Fragen unbeantwortet/ Wagenburgmentalität breitet sich aus
Ich brauche eure Hilfe!“ Gregor Gysi sagt es nicht direkt. Aber am Samstag nachmittag ist klar, daß er im Amt bleibt. Erleichterung bei den mehreren hundert Genossen, die zur öffentlichen Vorstandssitzung am Samstag nachmittag ins Parteihaus nach Berlin gekommen sind. Die Genossen wissen zwar alle nicht, wie es weitergehen soll mit der Partei, aber daß es nur mit Gysi weitergehen kann, darin sind sich nahezu alle einig.
Enttäuscht wird, wer vom Parteivorsitzenden eine offene Abrechnung erwartet hat. Er geht lieber zur Tagesordnung über: „Es kommt eine schwierige Situation auf uns zu“, sagt er zu den Genossen und: „Wir müssen noch solidarischer sein.“ Noch solidarischer sein. Worin?
Diejenigen, die am Samstag Fragen stellten — an den Parteivorstand, an das Präsidium und an den Vorsitzenden —, wurden mit Phrasen abgespeist. Wie das passieren konnte, wollen die Genossen wissen, daß so große Summen ohne Kontrollen einfach abgebucht werden konnten. Eine Genossin kann das gar nicht verstehen: „In unserem Campingklub kontrollieren wird doch auch den Kassenwart.“ Gysi: „Ich muß eingestehen, ich war zu gutgläubig.“ Er habe sich einfach nicht vorstellen können, daß jemand ernsthaft daran denkt, die Partei müßte sich auf die Illegalität vorbereiten. Schwer zu glauben, wurde doch im Präsidium und im Vorstand darüber diskutiert, was ein Verbot für die Partei bedeuten würde. Gysi weiter: „Daß die beiden sich persönlich bereichern wollten, glaube ich nicht.“
Alle Präsidiumsmitglieder halten die Genossen Pohl und Langnitschke für absolut integer. Einer der Vorständler aber hat Zweifel: „Es macht mich stutzig, daß alle im Präsidium nichts gewußt haben sollen.“ Da wird Gysi heftig: „Willst du etwa Genossen verdächtigen?“ Auf den Fluren jedenfalls geistern Gerüchte: Das Geld sei für alte SED-Kader bestimmt gewesen.
Das Parteipräsidium versucht, seine Haut zu retten. Einzeln und in geheimer Wahl sollen sie vom Vorstand im Amt bestätigt werden. In bewährter Weise üben sie Selbstkritik. Bernd Maier: „Wir haben uns zuwenig Zeit genommen für Grundsatzdiskussionen.“ Helga Adler: „Ich habe versagt, weil ich die Frage des Parteivermögens nicht thematisiert habe.“ Jede Antwort schreit nach einem neuen „Warum?“ und „Wie?“
Katrin Framke, ein junges Vorstandsmitglied, formuliert wie eine Handvoll anderer mehrmals ihr „schlechtes Gefühl“ ob dieser Sprechblasen. Sie fordert eine Selbstverständnisdiskussion darüber, was die Partei ist, welche Aufgabe sie in den neuen politischen Gegebenheiten hat. Auch sie ist gegen den „Gysiismus“. Zu viele Vorstandsmitglieder, meint sie, versteckten sich hinter Gysi mit der Erwartung „Na, der Kleine wird's schon machen“.
Der „Kleine“ oder auch „Papa Gysi“, wie eine junge linke Genossin dazwischenruft, macht's auch. Wie immer wird so entschieden, wie Gysi will. Der Beschluß, über die Abwahl des Präsidiums erst in zwei Wochen abzustimmen, paßt ihm nicht in den Kram. Mit seiner Rolle kokettierend („Auch wenn ihr jetzt sagt, der Gysi, der mischt sich in alles ein“), erwirkt er, daß die Entscheidung wieder gekippt wird. Das Argument: Wahlkampf. Den Präsidiumsmitgliedern sei nicht zuzumuten, zwei Wochen mit dieser Ungewißheit zu leben.
Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, hieß eine alte SED-Parole, an die die Diskussion fatal erinnerte. In einem heftigen Flurgespräch sagt es ein Genosse ganz deutlich: „Die Rechten haben doch auf so etwas nur gewartet, um uns zu kriminalisieren, dagegen müssen wir uns wehren.“ Die Umstehenden sind zunächst skeptisch, denn irgendwie ist ihnen nicht geheuer, was an ihrer Parteispitze vor sich geht, doch immerhin, mit diesem Verschwörungsargument läßt sich an der Basis argumentieren. Gysi jedenfalls tut nichts, um gegen die sich ausbreitende Wagenburgmentalität vorzugehen.
Verwirrung entsteht auch über den Vorschlag des Vorstandes, jetzt beim Parteivermögen einen „deutlichen Schnitt“ zu machen. Alles, was die Partei nicht für ihre unmittelbare Arbeit braucht, solle sie abgeben. Ein Genosse aus Thüringen: „Wir sind noch vier bei uns am Ort. Wenn ich sage, wir haben das Parteigeld verschenkt, lynchen die mich.“ Und eine Vorstandsfrau hat das Problem, daß sie „gar nicht weiß, was der Partei eigentlich gehört“. Auch bleibt offen, was es mit der Unterscheidung zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Eigentum auf sich hat. „Ich dachte, wir haben schon alles abgegeben“, sagt eine Bundestagsabgeordnete, „das hat mich bisher auch so sicher auftreten lassen“.
Daß in der Frage der Parteifinanzen noch mehr Fragen offen sind, wird zu später Stunde deutlich, als ein Mitglied der Schiedskommission ans Mikrofon tritt. Er berichtet von einem Gespräch mit Wolfgang Pohl am Samstag vor einer Woche: „Bist du ehrlich, ist das alles?“ habe er diesen nach seinem Bericht über die Transaktionen gefragt. Wolfgang Pohl soll darauf gesagt haben: „Ich werde in diesem Kreis und auch sonst nicht alles sagen.“ Dies habe die Schiedskommission in ihrem Bericht vermerkt. Das 'ND‘ habe allerdings diese Passage nicht veröffentlicht. Merkwürdig ruhig bleibt es im Saal, wieder werden die entscheidenden Fragen nicht gestellt oder nicht beantwortet. Und wieder ist es Gysi, der ablenkt: „Wir sollten jetzt nicht so tun, als hätten wir uns noch nie mit den Finanzen beschäftigt.“ Er warnt die Genossen davor, sich zuviel mit sich selbst zu beschäftigen: „So wichtig sind wir nun auch wieder nicht“. Und noch etwas erfahren die Genossen so ganz nebenbei, im Halbsatz: Daß von den hundert gewählten Vorstandsmitgliedern seit Monaten nur noch etwa 50 bis 60 zu den Sitzungen kommen. Der Rest, so Gysi, sei aus der Partei ausgetreten oder dauernd verhindert.
Die Partei steht vor dem moralischen und politischen Zusammenbruch, aber Gregor Gysi bläst zur Vorwärtsverteidigung. Er, die Symbolfigur für die Erneuerung, hilft wieder einmal mit, daß die Widersprüche in der Partei nicht ausgetragen werden. Und doch war alles nicht wie sonst. Eine Genossin, die „schon 1945 dabei war“, vermißt bei Gysi etwas: Leidenschaft. Sie meint: „Man muß doch etwas glühen“. Brigitte Fehrle
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