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“Seelenmord“: Die alltäglichen Signale

■ Wie erkennen, daß ein Mädchen sexuell mißbraucht wird?

Traute Familienfotos: Vati, Mutti, Töchter, feingemacht, lächelnd. Super-8-Erinnerungen: Taufe, Schulanfang. Unzähligen Frauen schnüren derartige Familiendokumente den Hals zu: Familie war für sie nicht der „geschützte Ort“ (eine Psychologin im Film), sondern der Ort des Grauens. Der Film „Seelenmord“ von Heidrun Moessner, in Zusammenarbeit mit Schattenriß, Verein gegen den sexuellen Mißbrauch von Mädchen, entstanden, hatte am Sonntag abend in der Kesselhalle des Schlachthofes Premiere. Der 22-Minuten- Streifen mit dem Untertitel „Abschied vom Mythos Familie“ ist eine Collage aus Fotos, Kindergarten-Szenen, Texteinblendungen, Interviews. Die Filmmusik von Klaus Möckelmann — „offene Akkorde , die sich im Halbtonschritt verschieben, schon im Barock Symbol für Schmerz“, unterlegt die Bilder mit düsteren Ahnungen.

„Sie lügt“. „Sie ist verhaltensgestört“. „Der Angeklagte hat einen tadellosen Leumund“ — Einblendungen, wie ÄrztInnen, ErziehungsberaterInnen, RichterInnen — auch in Bremen — die Untersuchungsbefunde negieren. Sie bagatellisieren die Anklagen, die Aussagen der betroffenen Mädchen, erklären sie zur Lüge.

Die Mädchen hingegen bekommen lebenslänglich: nie wieder Vertrauen, Nähe, Lust am eigenen Körper. Die körperlichen Verletzungen und der „Mord an der Seele“ brechen Jahre oder Jahrzehnte später als psychosomatische Krankheiten oder Depressionen wieder hervor.

Gefilmt wurde mit Kindern des Kindertagesheimes „Bei den drei Pfählen“. Das Problem, Betroffenheit ohne Betroffene zu inszenieren, löste Heidrun Moessner auf geniale Weise. Sie ließ die Kinder vor der Kamera malen, spielen, zum Turnen gehen: Da will ein Mädchen nicht alleine zur Toilette, eines sich nicht ausziehen, ein anderes seinen Lutscher nicht lutschen, ein anderes malt eine Schlange. Höhepunkte der jeweiligen Szene sind die mehr oder weniger verschlüsselten Erklärungen der betroffenen Mädchen, wie sie Schattenriß in seiner Beratungspraxis erlebt. Die blendet Heidrun Moessner als Unterzeile in das stehende Bild.

„Warum so ungenau? Warum kein Einzelfall? Wo sind die knallharten Fakten?“ — Ratlos reagierten einige ZuschauerInnen, die Spektakuläres erwartet hatten. Durchaus gewollte Reaktionen. Denn so ungenau, wie die Mädchen im Kindergarten die Signale ihres Leidens aussenden, blieb auch der Film: er zwingt die ZuschauerInnen, sehr genau hinzuschauen. ErzieherInnen — und für die ist der Film in erster Linie gedacht — sollen dafür sensibilisiert werden, den Grund für geläufige „Verhaltensstörungen“ auch im möglichen Mißbrauch zu suchen.

„Keine kann mehr sagen: Das habe ich noch nie gesehen“, kommentiert die Filmemacherin die Alltäglichkeit der Szenen. „Der Film hinterläßt viele Fragezeichen und damit auch die Bereitschaft zum Reden.“

Der Film soll bei Fortbildungen eingesetzt werden. Bleibt die Hoffnung, daß er bundesweit möglichst oft verkauft und ausgeliehen wird. Denn von den 93.000 Mark, die das Projekt verschlungen hat, sind bisher erst 25.000 zusammen. Beate Ramm

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