Der Prozeß

■ Wie die Stasi in Leipzig im Mai einen Bonzenprozeß inszenierte DOKUMENTATION

Wenn die Wirklichkeit eine Annäherung an die Literatur erreicht, wird sie meist grotesk. In Leipzig gab es diese Wirklichkeit, sie erstreckte sich vom Dezember 1989 bis zum Mai 1990 und wirkt weiter fort bis heute. Es geht um einen Prozeß, bei dem erst jetzt einzelne Hintergründe greifbar werden, der dennoch als Ganzes ein Rätsel bleibt oder eine Groteske. Es geht um den Prozeß gegen den ehemaligen Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig, Rolf Opitz.

Kafka läßt grüßen

Dieser Prozeß, der vom 3. bis 11. Mai 1990 vor dem Leipziger Bezirksgericht stattfand, trägt tatsächlich Züge von Kafkas Roman. Dabei liegt das Besondere nicht etwa im Gegenstand der Anklage — Rolf Opitz wurde wegen „Schädigung sozialistischen Eigentums durch Untreue“ angeklagt und verurteilt. Als Objekt dieser Untreue galt ein Einfamilienhaus in Holzhausen, welches Opitz 1986 mit staatlichen Mitteln kaufen und später renovieren ließ. Er wohnt noch heute darin. Eigenartig und befremdlich bei diesem Prozeß scheinen allein der Hintergrund und die daran beteiligten Personen.

Als am 13. Dezember letzten Jahres im Leipziger Bürgerkomitee in der Braustraße eine öffentliche Befragung von Herrn Armin Riecker durchgeführt wurde, ahnte wohl von den Zuhörern noch kaum jemand, daß dies der Auftakt zur Verhaftung von Rolf Opitz sein würde. Opitz war in dieser Zeit schon längst ins Gerede gekommen. Stets jedoch trat er in der Öffentlichkeit selbstsicher auf, erstattete gar Anzeige gegen einen Sprecher des Neuen Forums, der am 18. November öffentlich Vorwürfe gegen ihn erhoben hatte. Nun also, am 13. Dezember, diese Befragung. Armin Riecker, bis dahin persönlicher Mitarbeiter von Herrn Reitmann, dem für die Abteilung Inneres zuständigen Stellvertreter von Opitz, belastete den Vorsitzenden schwer. Gleichzeitig jedoch verteidigte er ebenso verhement die Rolle seines Chefs Reitmann, der als Mitglied des „kleinen Kollektives“ zusammen mit Stasi-Offizieren für die „innere Sicherheit“ der Stadt Leipzig verantwortlich war.

Durchgeführt hat diese Befragung im Dezember ein Ernst Mährlein. Herr Mährlein ebnete sich mit dieser Opitz-Anklage den Weg ins Leipziger Bürgerkomitee, wurde jedoch von der 'DAZ‘ im Februar mit der Stasi in Zusammenhang gebracht und aus dem Bürgerkomitee entlassen. Heute ist sicher, daß Herr Mährlein einer der am längsten in Leipzig arbeitenden „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) der Staatssicherheit war. Doch auch Herr Riecker arbeitet seit seiner Zeit als Milittärattaché in Frankreich (1964) als IM der Stasi.

Am nächsten Abend wird Rolf Opitz in seinem Haus verhaftet. Ihm wird keine Zeit gelassen für Formalitäten oder Anrufe, etwas zu spektakulär wird er gleich im Trainingsanzug mitgenommen. Zuvor sah sich Opitz auf der am selben Tag stattfindenden Sitzung des Bezirkstages heftigen Angriffen ausgesetzt. Die härtesten Anfragen kamen dabei von Dr. Krause (CDU), jetzt in schöner Ironie an Opitz' altem Platz als Chef der Bezirksverwaltungsbehörde. Dr. Krause hatte in den vorangegangenen Tagen auf eigenartige Weise massiv Informationen über Rolf Opitz zugesteckt bekommen, war andererseits auch einer plötzlichen und großen Zahl von Drohungen per Post oder Telefon ausgesetzt.

Das Gericht — eine Ansammlung von Stasi-Mitarbeitern

Rolf Opitz selbst brach in der Untersuchungshaft psychisch und physisch zusammen und wurde bald ins Leipziger Haftkrankenhaus überführt. Währenddessen lief die Vorbereitung des Prozesses auf Hochtouren. Die 'Bild‘-Zeitung tönte vom „1. Bonzenprozeß“, die anderen Zeitungen folgten brav mit ihren Schlagzeilen. Am 3. Mai 1990 um 9 Uhr war es dann soweit. Richter Fritsche eröffnete den Prozeß. Doch Richter Fritsche war eigentlich gar kein tätiger Richter, als Personalchef des Bezirksgerichtes Leipzig führte er weder vor noch nach dem Opitz- Prozeß je eine Verhandlung. Dafür jedoch war Herr Fritsche jahrelang verantwortlich für die Einschätzungen und Ablehnungen von Bewerbern zum Jurastudium und — auch Herr Fritsche war ein „Inoffizieller“ der Staatssicherheit. Staatsanwalt Roland von der Leipziger Bezirksstaatsanwaltschaft und Verteidiger Rammstedter — der auch die Wahlfälscher verteidigte — teilten sich die übrigen Rollen. Verhandelt wurde ausschließlich über den Hauskauf der Familie Opitz, und selbst dabei wurden die wichtigsten Zeugen gar nicht erst geladen. Weder Frau Uta Nickel — als ehemalige Finanzchefin des Rates — noch Herr Reitmann waren als Zeugen berufen worden. Am 11. Mai schließlich endete der Prozeß. Rolf Opitz wurde zu einem Jahr Gefängnis ohne Geldstrafe verurteilt und noch am Tage der Urteilsverkündung auf Bewährung entlassen. — Warum nun soviel zähe Statistik?

Die Gründe wie die Fragen sind vielfältig. Da sind zum einem die jetzigen Positionen der drei wichtigen Stasi-Leute in diesem Prozeß. Herr Fritsche arbeitet heute als Stellvertretender Präsident des Leipziger Bezirksgerichtes. Seine Chefin, Frau Strenger, ist Frau eines Majors der Staatssicherheit, der in Leipzig als Leiter der Abteilung XX für die Unterdrückung der „politisch ideologischen Diversion / politischen Untergrundtätigkeit“ zuständig war. Herr Riecker schreibt in der Presseabteilung der Bezirksverwaltungsbehörde.

Karrieren

Den größten Aufstieg aber hat wohl Herr Mährlein geschafft — er leitet die Anzeigengeschäfte einer großen Düsseldorfer Werbeagentur im Süden der DDR und geht als Berater für „Public Relations“ bei verschiedenen Chemiefirmen ein und aus. Natürlich scheint all dies im Vergleich zu den Stellungen von Stasi-Offizieren in Ministerien und Betrieben kaum erwähnenswert. Wäre da nicht dieser unverständliche Prozeß gegen Rolf Opitz, ein Prozeß, der in seinen wichtigsten Punkten von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit regelrecht inszeniert wurde. Unklar bleibt allein der Grund dieses Schauspiels. Sollte von den eigentlichen Verbrechen des Rolf Opitz — er schuf zum Beispiel als Mitglied der „Bezirkseinsatzleitung“ in Leipzig den Plan zur Internierung von Oppositionellen — abgelenkt werden? Warum dann aber überhaupt Verhaftung und Prozeß, die doch bei fast allen anderen Schuldigen auf Opitz' Niveau gar nicht erst zustande kamen? Sollte Opitz gewarnt oder bestraft werden? Haben einzelne Fraktionen dieses Geheimdienstes sich gegenseitig bekämpft? Fragen, die auch in Zukunft kaum eine Antwort finden werden. Vielleicht war der Opitz-Prozeß nur ein großangelegter Test, wie denn die Stasi-Strukturen den lange vorgeahnten Zusammenbruch überleben könnten. Vielleicht aber zeigte sich hier auch nur das Symptom dieser Gesellschaft, die von Kollaboration und Kriecherei durchdrungen ist. Alles nur ein einziger und eigenartiger Zufall, keiner wußte vom anderen, und jeder dachte allein an die eigene Zukunft. Und Opitz? Ein Versehen, ein Schuldiger, der keine Schuld versteht und bei allem noch viel Glück im wenigen Unglück hatte? Vielleicht. Jan Peter

Aus der 'DAZ‘, der Leipziger 'Anderen Zeitung‘ vom 19.9.90