piwik no script img

Der Streit um den heiligen Ort

■ Der Tempelkonflikt wird instrumentalisiert im Konflikt der politischen Parteien

Der Zerfall der indischen Gesellschaft scheint komplett. Der Rechtsstreit zwischen Hindus und Muslims um einen Schrein an einer heiligen Stätte im nordindischen Ayodhya ist zu zahlreichen kommunalistischen Ausschreitungen (zwischen den Religionsgruppen) im ganzen Lande degeneriert; die alte Animosität zwischen höheren und niederen Hindu- Kasten, durch die Entscheidung der Regierung, Jobs auch für die mittleren Kasten zu reservieren, erneut aufgeflammt.

Die frühesten Berichte über den Tempel-Konflikt datieren aus 1857. Schon damals hatten sich Hindus mit der Behauptung, der muslimische Eroberer des Subkontinents Babar hätte ihren Tempel zerstört und just an der Geburtsstätte des legendären Hindu-Gottes Rama die Babri Masjid in Ayodhya errichtet. Die Geschichte des Konfliktes sollte weitergehen, als sich 1949 von neuem ein Hindu-Mönch ans Gericht wandte. Der Gerichtshof von Uttar Pradesh entschied sich auf des Mönches Klage hin, den Schrein zu schließen und die Stätte als umstrittenes Gebiet zu deklarieren. Mit Feingefühl für den höchst sensiblen Verfahrensgegenstand hat das Gericht seinen Entscheid bis heute vertagt. 1986 hat allerdings ein untergeordnetes Kreisgericht einer weiteren Hindu-Klage stattgegeben und die öffnung des Schreins angeordnet, mithin den Weg für den blutigen Konflikt wieder geebnet.

Über Nacht wurden die Bildnisse Ramas, seiner Frau Sita und ihres Schülers, des Affengottes Hanuman, in dem Schrein aufgestellt. Die Muslime protestierten vergeblich. Seit 1949 sei hier kein Gebetsruf mehr erklungen, hielten die Hindus ihnen entgegen. Im vergangenen Jahr gestattete die Congress-Regierung unter Rajiv Gandhi den Hindu-Fundamentalisten, die sich unter dem Schirm der Vishwa Hindu Parishad (VHP) versammelt hatten, den Grundstein für den Tempel auf dem umstrittenen Gelände zu legen und ignorierte damit das laufende Verfahren. Rajiv Gandhi trug dies vehemente Kritik ein, er gehe unter fundamentalistischen Hindus auf Stimmenfang. Nach dem Sieg von Rajiv Gandhis Kontrahenten V.P.Singh waren die Fundamentalisten in einer noch stärkeren Position, denn das Überleben der Minderheiten-Regierung des neuen Premiers war von ihrer fundamentalistischen Bharatiya- Janata-Partei (BJP) abhängig.

Zahlreiche Verhandlungen zwischen Muslim- und Hindu-Gruppierungen sind bislang gescheitert. Die Hindus bestehen darauf, daß die Moschee transferiert werden sollte und führen ähnliche Transaktionen in Mekka für ihre Sache ins Feld. Die Muslime kontern, es gebe keine Beweise, daß Rama am Standort derBabri Masjid geboren worden sei, die Hindus könnten ihren Tempel daher ohne weiteres an einem anderen Ort errichten.

Die ganze Rechtsdebatte trat allerdings in den Hintergrund, als BJP- Präsident Lal Krishna Advani am 23.September auf Tour ging, um für die Tempelerrichtung am 30. Oktober zu werben. Lal Krishna Advani's „Triumph-Marsch“ (Rath Yatra) hinterlies eine Spur kommunalistischer Krawalle. Im südlichen Bundesstaat Karnataka zog er gar den Sturz der Regierung nach sich.

Die kommunalistischen Ausschreitungen haben aber auch einen weiteren Fehlzug von V.P.Singhs Spiel unter Beweis gestellt — seine Entscheidung, reservierte Regierungsjobs an Angehörige niederer Kasten zu vergeben. Mulayam Singh Yadav hat die Regierungsentscheidung, den Status der backward castes (zurückgebliebenen Kasten) auf einen größeren Personenkreis auszudehnen, unterstützt — nicht nur, weil er als deren herausragendster Führer gilt, sondern auch, weil er gehofft haben mag, so die Aufmerksamkeit der Hindus von dem Schrein-Konflikt abzulenken und der Mobilisierung für die Tempelerrichtung etwas entgegenzusetzen. Die fundamentalistische VHP hat das aber offenbar in keiner Weise beeinträchtigt. Mit ihrer Kastenpolitik hat die Regierung jedoch eine weitere Front der Gewalttätigkeiten aufgebrochen. Mehr als 100 „upper caste“-Studentinnen haben sich bereits das Leben genommen, um gegen die vermeindliche Bevorteilung der unteren Kasten zu protestieren — und dies in einem Lande, das bereits durch die Sezessionsbewegungen in Kschmir, im Punjab und im nordöstlichen Assam erschüttert ist.

Das Feuer kommunalistischer Gewalt ist entfacht. Seit August 1947 befand sich Indien in keinem ernsteren Belagerungszustand. Joydeep Gupta, übersetzt

aus: 'Herald‘, New Delhi

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen