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Bonner Raumschiff oder Realität Berlin?

■ Plädoyer für eine Verlegung des Regierungssitzes/ Die Entscheidung soll in einem Volksbegehr über neue Verfassung getroffen werden

Im bevorstehenden Wahlkampf wird die Frage: »Wo soll der Parlaments- und Regierungssitz sein — Berlin oder Bonn?« eine zentrale Rolle einnehmen. [...] Auch die AL muß sich entscheiden. [...] Bundestag und Bundesregierung müssen den »Sicherheitsabstand« zwischen dem Bonner Raumschiff und der Realität überwinden. Dies geht nur in Berlin. Die Abgeordneten und die politisch Verantwortlichen müssen mit den alltäglichen Konflikten und Problemen konfrontiert werden, wie sie in dieser Stadt existieren. Dies ist im fernen Bonn nicht möglich, dieses Realitätsbewußtsein läßt sich nur in Berlin vermitteln.

Hier stoßen die Auswirkungen des überhasteten Einigungsprozesses am schärfsten aufeinander. Die wirtschaftlichen und sozialen Konflikte werden hier am deutlichsten spürbar werden. Die finanzpolitischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind vom Berliner Landeshaushalt in keiner Weise aufgefangen. Wenn die Hauptstadt Berlin nicht zum »Palermo« der BRD — gelegen im neuen Armenhaus der Länder der Ex-DDR — werden will, müssen Wege gesucht werden, die diese verheerende Perspektive verhindern helfen. Bestimmte Infrastrukturmaßnahmen in der Stadt könnten aus Bundesmitteln finanziert werden, wenn Bundestag und Bundesregierung nach Berlin verlegt werden — aber auch nur dann. Dazu gehören neben Ministerien das Bundeskanzleramt, auch der ständige Sitz des Bundespräsidenten. Das Bundesverteidigungsministerium sollte (auch als politisches Zeichen gegenüber den Staaten Osteuropas) in Bonn bleiben. Um den föderativen Stellenwert deutlich zu machen, könnte der Bundesrat seinen Sitz ebenfalls in Bonn behalten. Gleiches gilt für nachgeordnete Bundesbehörden und Gerichte des Bundes, die ihren bisherigen Standort behalten bzw. gegebenenfalls in Leipzig, Rostock oder Dresden angesiedelt werden könnten. Bei allen Verlagerungen nach Berlin müssen entsprechende Übergangsfristen vorgesehen werden, um die Auswirkungen für die in Bonn Beschäftigten und für die Stadt Bonn selbst abzufedern.

KritikerInnen gegen den Parlaments- und Regierungssitz Berlin wenden ein, daß sich in der ohnehin beengten Stadt die Wohnraum- und Bodenspekulation noch weiter verschärfen würde, die Stadtplanung und Stadtentwicklung sich nur noch nach den Anforderungen dieser Gremien richten müßte. Diese wichtigen Bedenken lassen jedoch außer acht, daß mit dem Fall der Mauer und dem Metropolencharakter Berlins ganz wesentliche Veränderungen in der Stadt entstehen werden, die sich nicht zwingend aus der Funktion als Parlaments- und Regierungssitz ergeben. Auch die von allen Seiten gewünschte »Internationalisierung« Berlins, z.B. durch KSZE-Einrichtungen oder andere internationale Institutionen, kann zu stadtpolitisch ungewollten Effekten führen.

Um diese mit ziemlicher Sicherheit entstehenden Zielkonflikte zu minimieren, helfen nur klare vertragliche Vereinbarungen zwischen dem Land Berlin als »Gastgeber« und den »Gästen« Bundestag und Bundesregierung. Es muß sichergestellt werden, daß die planungsrechtlichen Zuständigkeiten bei Berlin bleiben. Eine Mietpreisbindung muß gewährleisten, daß ein noch verstärkter Verdrängungsmechanismus der Berliner MieterInnen verhindert wird.

Auf Berlin als Hauptstadt sind in der Vergangenheit schwere Schatten gefallen. Berlin war Ausgangspunkt zweier Weltkriege und war die Machtzentrale des nationalsozialistischen Terrorregimes. Es wäre jedoch fatal, dies allein als Hypothek der BerlinerInnen zu begreifen. Es ist eine geschichtliche Hypothek für alle Deutschen. [...] Berlin war die Hauptstadt des Dritten Reiches, weil es zuvor Reichshauptstadt war. »Hauptstadt der Bewegung« war bekanntlich eine andere Stadt, die »Stadt der Reichsparteitage« lag im gleichen, heutigen Bundesland. Die Nationalsozialisten jedenfalls haben Berlin nicht erobert, im Gegensatz zu vielen anderen Städten. Solange in Berlin gewählt wurde, bekamen sie keine Mehrheiten. Es ist daher richtig zu unterstreichen, daß Berlin auch immer die Hauptstadt des »anderen Deutschland« war: von der bürgerlichen Revolution 1848 über die Novemberrevolution 1918 bis hin zum antifaschistischen Widerstand.

Ob die europäischen Nachbarvölker wieder mit Angst auf Berlin blicken werden, hängt daher einzig von der Politik ab, die in der Hauptstadt des nunmehr vereinten Deutschland betrieben wird. Eine Hauptstadt Berlin/Kreuzberg/Prenzelberg hätte in der Tat positive Ausstrahlung nach ganz Europa. Wie es mit dem »Berlin-Bewußtsein« der Bonner ParlamentarierInnen bestellt ist, zeigten nicht zuletzt die Vorschläge der sofortigen Kürzung der Berlinhilfe aus allen Parteien. Wir haben als BerlinerInnen ein vitales Interesse daran, daß die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes nicht von der Behäbigkeit Bonner ProvinzpolitikerInnen und den Bausparverträgen der ihnen zuarbeitenden Ministerialbürokratie entschieden wird. Die Frage, welche Stadt Parlaments- und Regierungssitz wird, sollte deshalb Teil der Volksabstimmung über die neue Verfassung werden. [...] Jürgen Wachsmuth

Wolfgang Wieland

Johann Müller-Gazurek

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