Die Kaspar Hauser der zivilen Gesellschaft?

Die osteuropäischen Bürgerrechtsbewegungen sehen sich nach demokratischem Umbruch von aktuellen Problemen in die Defensive gedrängt/ Vision eines einigen Europas in weite Ferne gerückt/ Grüne luden zu Mittelosteuropa-Forum  ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski

Beim ersten Treffen im September 1989 — der Fall der Mauer war noch unabsehbar — stuften die osteuropäischen Gäste die Wiedervereinigung als zeitlich unbestimmt aber selbstverständlich ein. Die Deutschen aus Ost und West wiesen dies als abwegig zurück. Ein gutes Jahr später sind die Gäste bestätigt. Zudem hat der Zusammenbruch der osteuropäischen Diktaturen die damaligen Oppositionellen vielfach zu Regierenden gemacht. Das zweite Forum zu Mittelosteuropa mit dem Titel „Vereinigtes Deutschland — einiges Europa?“, zu dem die Grünen einluden, bilanzierte dennoch alles andere als den Sieg der Demokratiebewegungen. In der Bestandsaufnahme überschatteten vielmehr die sorgenvollen Ausblicke das Aufbruchsgefühl.

Die Hoffnungen und Bedenken der Osteuropäer zum deutschen Einigungsprozeß wollten die Grünen erfahren. Doch dieses Thema war für die hochkarätigen Gäste aus der Sowjetunion, Polen, CSFR, Lettland, Ungarn und Rumänien auf dem zweitägigen Treffen bei Bonn längst erledigt und wurde ignoriert. Ihnen brennt anderes auf den Nägeln: Sie fühlen sich vor allem bedroht von einer wirtschaftlichen und ökologisch Katastrophe und sehen sich einem üppig wuchernden Nationalismus, Antisemitismus und Haß auf ethnische Minderheiten gegenüber. Mit einem Eiswürfel verglich der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi die Situation: Was in den Jahrzehnten stalinistischer Herrschaft an aggressiven Viren tiefgefroren war, schmelze nun heraus und fände reichen Nährboden. Der Stalinismus, so seine These, habe überall den Rechten den Boden bereitet.

Die deutsche Einigung tangiert die Osteuropäer vor allem auf der ökonomischen Ebene. Der Zusammenbruch der DDR, die als erfolgreichstes Modell sozialistischer Wirtschaft galt, wertete die Moskauer Wissenschaftlerin Marina Silvanskaja auch als Wendepunkt für die sowjetischen Wirtschaftsreformen. Damit seien alle Versuche endgültig obsolet geworden, die Sowjetunion mit den von Stalin in den dreißiger Jahren unterdrückten Entwicklungskonzepten zu sanieren. Sie und das Mitglied im sowjetischen Volkskongreß, Professor Jurij Afanasjew, zeichneten ein verheerendes Bild. Afanasjew bezeichnete Gorbatschow gar als Egon Krenz der Sowjetunion und skizzierte einen drohenden Zusammenbruch der europäisch-eurasischen Zivilisation. Eindeutig verwarfen alle sowjetischen Vertreter jeden Gedanken an Erneuerung, die die anderen Osteuropäer für ihre Länder ausmachten. Sie konnten nur einen Zerfall feststellen. Professorin Marina Silvanskaja bilanzierte eine „allumfassende Krise der Macht“, in der zwar die Gegner der Perestroika diskreditiert seien, aber auch die Partei-Reformer sich bereits erschöpft hätten. Die neuen dezentralen politischen Strukturen trügen durch die fehlende Gewaltenteilung ebenfalls „den Keim der Diktatur in sich“ und machten einem schnellen Prozeß der Korruption durch.

Von einem einigen Europa fühlt man sich weit entfernt. „Die Gräben wachsen“, antwortete Frau Silvanskaja vielmehr auf die Frage, ob man sich im vergangenen Jahr näher gekommen sei. Alle Beziehungen würden nur noch in harter Währung abgewickelt, wirkliche Hilfe bliebe aus und die der sowjetischen Hegemonie entkommenen Länder seien in neue, diesmal westliche Abhängigkeiten geraten. Was die politische Entwicklung neu geknüpft habe, werde von der Ökonomie wieder zerrissen. Alte Gemeinsamkeiten aus der Oppositionszeit änderten daran wenig. So halte Prag auch unter Präsident Havel am Visazwang und der wirtschaftlichen Abschottung gegenüber Polen fest, erinnerte der grüne Exil- Tschechoslowake Milan Horaczek. Als problematische „nationalstaatliche Egoismen“ beschrieb der polnische Chefredaktuer der Zeitung 'Zycie Warszawy‘, Kazimierz Wysocki, was der Ungar Eörsi den „ungesunden Wettlauf um West-Subventionen“ nannte, bei dem man sich wie „Bluthunde“ gegenüberstehe. Die demokratische Revolution in der CSFR sei in Ungarn von Regierungsmitgliedern öffentlich bedauert worden, weil es westliche Investitionen von Ungarn abziehe, erzählte Eörsi. Registriert werde vor allem, daß die Bonner Gelder nun in die ehemalige DDR flössen. Gemeinsame Interessen zu entwickeln, falle deshalb schwer.

Auch wenn die Polen und Tschechen anders als in der Sowjetunion erste Erfolge ihrer Reformbemühungen sehen, fühlen sie sich von einer zivilen Gesellschaft noch weit entfernt. Dazu müsse vor allem die materielle Basis noch gelegt werden, vertraten die Bürgerrechtler, wobei sie der Schaffung von Privateigentum eine zentrale Rolle beimessen. Einige äußerten die Sorge, angesichts der geringen Fortschritte bei der wirtschaftlichen Gesundung und einer Gemengelage von Korruption und Manchester-Kapitalismus werde der Umsturz in Osteuropa langfristig die Bürgerrechtsbewegung doch auf die Seite der Verlierer stellen. Verwiesen wurde auf die konservativen Wahlsiege in Ungarn und auf den Zerfall des Prager Bürgerforums. Wieviel Zeit haben wir in Osteuropa noch für ein neues Europa, fragte deshalb besorgt der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, Helmut Lippelt. Noch weiter ging Richard Weißhuhn von der Initiative Frieden und Menschenrechte: Die Vorstellungen von Havel und anderen prominenten Bürgerrechtlern hätten sich nicht als „realitätstüchtig“ erwiesen. Diese seien lediglich Wegbereiter, die „Kaspar Hauser der zivilen Gesellschaft“. Vergleiche mit der DDR-Entwicklung boten sich an. Weißhuhn selbst hatte sich am ersten Tag bereits gegen die These gewandt, die DDR-Opposition habe ihre Chance vertan. Diese Chance habe es in Wirklichkeit „nie gegeben“, weil die Stärke der Opposition im November 1989 lediglich eine „optische Täuschung“ gewesen sei.