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„Wende heißt auf griechisch Katastrophe“

In Erinnerung an die legendäre Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz vor einem Jahr demonstrierten 40.000 Menschen am selben Ort/ Diesmal stand jedoch die soziale Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland im Mittelpunkt  ■ Vom Alex Ute Scheub

Kälter als im letzten Jahr war es diesmal auf dem Berliner Alexanderplatz, leerer auch und sehr viel weniger hoffnungsvoll. Wo am 4.November 1989 zwischen einer halben und einer ganzen Million Menschen ein Regime friedlich in den Untergang demonstriert hatten, kamen diesmal erneut mehrere zehntausend: 30.000 nach Polizeiangabe und 45.000 nach Schätzung der Veranstalter, der sozialen Interessensverbände des Berliner „Runden Tisches von unten“. Nach damaligen Verhältnissen lächerlich wenig, nach heutigen schon wieder viel.

Es solle „keine Nostalgiekundgebung“ abgehalten werden, hatte Bärbel Bohley vom Neuen Forum schon im Vorfeld beschworen, diesmal gehe es um die Kritik an der sozialen Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschen. Dennoch, in Erinnerung an den hoffnungsvollsten und gleichzeitig aber auch trügerischsten Tag des basisdemokratischen Aufbruchs in der DDR, blieb Trauer und Wehmut unter den mehrheitlich jungen DemonstrantInnen nicht aus.

„Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ war weiland eine große Karikatur des Übergangskandidaten Egon Krenz überschrieben. „Großmutter, warum hast du so scharfe Krallen?“ hieß es nun zu einem Bild des Bundesadlers. Die Parole „Wir sind das Volk“ hatte sich jetzt in „Wir sind vielleicht ein Volk“ und „Wir waren das Volk“ gewandelt. „Neue Bonzen hat das Land“, verkündete ein anderes großes Transparent, oder auch: „Bleib geduckt! Nicht aufgemuckt! Alles runtergeschluckt! Sonst wirst du entlassen“. Ein Demonstrant führte gar Friedrich Schiller im und auf dem Schilde: „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume“.

Auch Bärbel Bohley, die anstelle des verhinderten Pfarrers Friedrich Schorlemer sprach, empfand gleichzeitig Gefühle „des Sieges und der Niederlage“: „Damals haben wir Demonstrationsfreiheit gefordert, heute können wir demonstrieren, soviel wir wollen, aber werden als Pöbel der Straße bezeichnet. Damals kämpften wir für Pressefreiheit, heute können wir alle Zeitungen lesen, aber unsere Probleme stehen dort wenig drin. Damals wollten wir Reisefreiheit, heute können wir reisen, aber das Geld dazu fehlt uns.“

„Die Utopie von einer besseren Gesellschaft, vor einem Jahr hier formuliert, hat sich an keinem Ort, nirgends, erwiesen“, befand Annett Gröschner vom Unabhängigen Frauenverband. Die Frauen hätten die größten Kosten der Vereinigung zu zahlen, und „Germania, die wiederbeatmete, ist wieder keine Frau, nur ein Held“. Wann, so fragte sie, würden die Frauen die vollgekackten Windeln ihrer Kinder vor das Rathaus kippen wie die Müllmänner ihren Müll und die Bauern ihre Milch? „Die Zukunft soll dem gesunden deutschen Mann bis vierzig gehören.“ „Wende heißt auf griechisch Katastrophe“, verkündete auch der Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink. Er klagte den Verlust der direkten Demokratie ein, die heute nur noch in Rudimenten wie in den Treffen des Berliner „Runden Tisches von unten“ existiere: „Ohne Demokratie von unten gibt es keine Veränderung von oben, allenfalls eine Katastrophe von oben.“

Wolfgang Ullmann, Bundestagsabgeordneter des Bündnisses 90, ging da noch weiter. Er sah den 4.November 1989 als den Tag, an dem „die verfassunggebende Gewalt des Volkes“ praktiziert wurde: Er sei „einer der wichtigsten Tage in der deutschen Geschichte“ gewesen, ja, sogar „der größte Sieg der Demokratie, der je in deutschen Landen erreicht wurde“. Unter großem Beifall forderte er ein Verfassungsrecht auf Volksbegehren und Volksentscheid, das dann „zum ersten Mal praktiziert wird in einem Volksentscheid für eine neue Verfassung“.

Begleitet wurde die Kundgebung von MusikerInnen, die das „Europäische Bürgerforum“ zur Feier des Tages nach Berlin eingeladen hatte. Sein Ehrenpräsident Otelo de Carvalho, Anführer der ebenfalls gescheiterten portugiesischen Nelkenrevolution, redete auf seine Art gegen den herrschenden Weltschmerz an: „Revolutionen lohnen sich immer, das werdet auch ihr in zehn oder zwanzig Jahren sagen.“

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