: Fingerhakeln im Kunstharz
■ Erster Worldcup der Sportkletterer in Nürnberg PRESS-SCHLAG
Linke Mittelfingerkuppe in Kopfhöhe, vollgummierte rechte Fußspitze im 90 Grad Winkel oder die variante rechte Zeigefingerkuppe in Oberläppchenhöhe (links!), linke Ferse Überkopf... „Immer an der Wand lang.“ Dünne Beine in bunten Hosen, Klettergurte um schmale Hüften, Conti TS an den Füßen, das alles gehalten von popeyschen Unterarmen, deren periphere Schwitzehändchen ab und an in den Chalk (chem.: Mg) im Beutel greifen, während manfrau einhändig unterm Überhang baumelt. Statt Vogelgezwitscher Rockmusik, statt Alpenluft Messehallenmief, statt Sonne und Wiesen Neonspots und kunstrasengrüner Velour und — statt aus der „Schöpfung 1. Stunde“ ein Felsenmeer aus Stein (verschrobene Natürlichkeit halt), laminierte Holzplatten mit Polyestergriffen (eine Kunstwand eindeutiger Unnatürlichkeit halt!). Konstruktionsvorlage Lübecker Holstentor, eine 12 Meter hohe und 18 Meter breite graue Fassade mit einem Innenleben aus hunderten von skurril sich zur Decke hocharbeitenden Stahlrohren. Ort: Frankenhalle (M) in Nürnberg.
Die Sportkletter-Elite fingerhakelte sich beim Worldcup im 9. Schwierigkeitsgrad „on top“. Fürs Viertelfinale (2.11.) durfte jede Nation vier Kletterer und zwei Kletterinnen an die Kunstwand schicken, und wer da nicht zu den Auserwählten gehörte, konnte sich „am Allerheiligen“ bei den Open für den Gipfelsturm qualifizieren. Denn die „besten 10“ durften sich am nächsten Klettertag mit „ins Seil binden“. Die Wettkampfroute an der Plastikwand zeigte sich täglich im neuen Outfit: Mal gings am rechten Pfeiler hoch, unter dem Torbogen lang, dann die Direttissima in die Verschneidung. 24 Stunden später links unter Überhängen (!) diagonal traversierend in die aufsteilende Piazwand (= Plastikfels) ... ein Schwebegang über dem Velour, Technik und Maximalkraft fordernd. Natürlich alles im „Vorstieg“! Geht der Griff daneben, rauschen die Kletterfreaks ins 11mm-Seil — aus mehr oder weniger Höhe, mehr oder weniger heftig.
Also soll heißen: Eine durchstiegene 9er Route mit Gipfelanschlag ist so ähnlich wie ein Solo von Brian Landrup durch des Gegners Hälfte mit Umspielen des Torwarts und Torerfolg durch Beinschuß! Klar?! Erfinder der komplizierten Wettkampfroute und Leger derselbigen waren Wolfgang Güllich und Kurt Albert, die deutschen Kletterheroen, die sich selbst viel lieber an echten Felswänden tummeln. Nicht genug, daß schon Überhänge, Risse, Verschneidungen und anderes natürliches Felsszenario per Kunstharzgriff simuliert werden muß; es gilt, der Natur ein „unter Wettkampfbedingungen objektives, weil Worldcup“- Schnippchen zu schlagen! Der Abstand „Knob zu Knob“ muß lange und kurze Kletterambitionierte gleichermaßen fordern.
Und dann ist auch noch Klettern „on sight“ angesagt: die Wettkampfroute bleibt top secret bis der Lautsprecher die GipfelstürmerInnen (gemäß Auslosung) an die Wand ruft. Bis zum Count-down ist manfrau unter Kabinenverschluß. Mentales Training und Body-stretching im Aufwärmraum, vorher Abgucken in der Wettkampfarena gilt nicht! Und dann nach dem „veni“ nur eineinhalb(!) Minuten „vidi“ für das „vici“ (nur neun Minuten!). Für die Wettkampfgerechtigkeit sorgte auch dieses Mal Kampfgericht und zwei an der Wand baumelnde „Linien“richter (per Stöckchen auf den zuletzt erreichten Griff zeigend). Im High- Tech-Zeitalter natürlich Simultanübersetzung der Höhe per Digitalanzeige — publikumswirksam im „Torbogen“ plaziert. Vorteile hat das Klettern an der Plastikwand allemal: Sie ist witterungsbeständig, kostet nur 400.000 Mark und schützt nicht nur Arco (ital. Kletter-Eldorado) vor mehr Haken im Fels, weggeschneisten Zuschauertribünen und Müllbergen! Übrigens: Oberklettermax beim Superfinale (am 4.11.) wurde Francois Legrand, und Frau Trenker heißt jetzt Isabelle Patissier. Tja, und „die deutsche Kletterelite“ hat ein paar Griffe verfehlt! Newcomer Finkel erklomm beim Finale den 7. Platz und Heike Ortlieb (leider nur bis zum Viertelfinale dabei) den 23. Micha Bruch/U. Winkelmann
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