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BER ICH KANN FLIEGEN ...

„Ein Tag im Leben des Michail Gorbatschow“ war als Reportage geplant. Erlebt haben wir vier Wochen sowjetischen Alltag: leere Geschäfte, lange Schlangen, 180.000 Leute auf der Straße für die Abdankung der kommunistischen Regierung, lächelnde Milizionäre, Hilfsbereitschaft, intensive Gespräche, geile Konzerte, wilde Besäufnisse, Hunger und opulente Dinner... Impressionen aus Moskau

und Leningrad

VONPETRAGALL

Wir wohnen bei Freunden in einer typischen alten „Kommunalka“ im Zentrum. Ein ewig langer, düsterer Flur, von dem sechs Zimmer abgehen — fünf Mietparteien, die sich nichts zu sagen haben, seit Jahren gegeneinander und nebeneinanderher leben: zwei alte Rentnerinnen, ein stiller Alkoholiker, ein Milizionär mit Frau und unsere Bekannten. Bad, Toilette und Küche werden gemeinsam benutzt. In der Küche nur kaltes Wasser, im Bad ein Gasdurchlauferhitzer, der jeden Augenblick zu explodieren droht. Die Heizung funktioniert so übergut wie in allen sowjetischen Wohnungen, man reguliert mit dem Fenster. Die Möblierung, spartanisch und aus den Sechzigern, erklärt sich durch das nicht vorhandene Angebot an Mobiliar in den staatlichen Läden, wo es ebensowenig Farbe oder Tapeten gibt — die letzte Renovierung ist mindestens 30 Jahre her.

„Heute im Verkauf“

Der Kühlschrank gähnt vor Leere, also beschließen wir, einkaufen zu gehen. Frohen Mutes, denn wir sind ausgestattet mit der „Visitenkarte des Käufers“. Sie besagt, daß die Person in Moskau wohnt und das Recht hat, hier Einkäufe zu tätigen. Wir klappern einige staatliche Läden ab: kein Fleisch, keine Nudeln, kein Mehl, kein Öl, kein Essig; Käse, wenn vorhanden, auf 300 Gramm pro Person limitiert; Zucker und Zigaretten auf Bezugsscheine, doch auch die garantieren nicht, daß es dafür etwas gibt.

Russische Zigaretten, früher 60 Kopeken das Päckchen, werden an Straßenecken unter der Hand für drei bis fünf Rubel verkauft, Westzigaretten offiziell an Kiosken für 15 bis 20 Rubel. Notorische RaucherInnen ohne Geld oder Beziehungen klauben sich die Stummel von den Bürgersteigen.

Meine Lieblingskaufhäuser „Kinderwelt“ und „Armeewaren“ sind leer. Riesige Paläste ohne Waren. Das schlimmste jedoch: kein Brot. Erst im dritten Laden sind die Regale mit Schwarzbrot gefüllt. Entsprechend ist der Andrang. Die Schlange, zu 85 Prozent Frauen, reicht bis auf die Straße.

Eine Ecke weiter ebenfalls eine Schlange. Diesmal 95 Prozent Männer, die für Alkohol anstehen. „Heute im Verkauf“: sowjetischer Portwein. Morgen vielleicht polnischer Wodka. Bei russischem Wodka herrscht mal wieder Defizit. Er ist nur über Taxifahrer zu bekommen, die mit dem Verkauf ihr mageres Gehalt aufbessern.

Nach drei Stunden ohne nennenswerten Erfolg beschließen wir, zum Markt zu fahren — koste es, was es wolle! Im Zentralmarkt am Zventnoj Bulvar türmen sich die Gemüse-, Obst- und Fleischberge. BäuerInnen, die in den höchsten Tönen ihre Waren anpreisen, Trauben zum Kosten anbieten und die Fleischbrocken wie Kinderpopos tätscheln. Daß hier kaum gedrängelt und geschlängelt wird, hat seine Gründe: Das Kilo Fleisch kostet 25 Rubel, ein Kilo Tomaten 10, ein Kilo Trauben oder Pfirsiche 15, eine Handvoll Pilze 25, eine grüne Pepperoni oder ein Ei einen Rubel. Ein Einkauf für zwei Tage Essen für vier Personen verschlingt hier gut und gerne 200 Rubel, einen durchschnittlichen Monatslohn! Unerschwinglich für mindestens 80 Prozent der sowjetischen Bevölkerung, zu denen auch die Alte gehört, die bei einem stadtbekannten Mafiarestaurant die Müllcontainer nach Essensresten absucht. Ihre 30 Rubel Rente reichen gerade für Wohnung, Gas und Strom. Die besten Reste, so erzählt sie, findet sie in den Abfällen der Cafés und Restaurants, in denen die Mafia und die Neureichen verkehren. Diese sind im Stadtbild nicht mehr zu übersehen, denn die legal oder illegal erworbenen Millionen werden offen zur Schau getragen: Mercedes oder BMW mit Bodyguard, schlecht sitzende, teure Anzüge, goldene Uhren, Westzigaretten, gewichtige Mienen und Begleiterinnen, die mit zuviel Schmuck, zuviel Pelz, zuviel Pfunden und zuviel Make-up nur billig wirken.

„Ja nadajel ikru“ — „ich habe Kaviar ja so über“, klagt mir ein Geschäftsmann sein Leid, während wir an zwei Obdachlosen vorbei zu seinem Volvo gehen. Diese „Bomschi“ plagen andere Sorgen. Keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld. Die Militantesten schlugen Anfang Juli ihr Lager vor dem Luxushotel „Rossija“ am Roten Platz auf, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Bisher ist nichts passiert. Touristen und Journalisten fotografieren, Passanten diskutieren. Wie viele Quadratmeter darf ein Mensch zum Wohnen fordern? Was ist die Arbeitskraft überhaupt noch wert?

Die Antwort darauf geben Jugendliche abends auf einer Geburtstagsparty. Fast alle haben ihre Jobs aufgegeben. 120 oder 180 Rubel im Monat empfinden sie als Hohn. Was kann man dafür schon kaufen?

Sauber und hell: Big Mäc

Die Geldentwertung galoppiert. Selbst McDonald's hat die Preise gerade um 100 Prozent erhöht, ein Hamburger kostet jetzt knapp acht Rubel. Ob die Schlange der Wartenden dadurch kürzer wird? Früher versorgte McDonald's durchschnittlich 15.000 Menschen pro Tag, manchmal gar 35.000. Die Attraktivität ist ungebrochen, am Wochenende steht die ganze Familie im Sonntagsstaat für Big Mäc an. „Es ist so sauber und hell; ein Stückchen Amerika im schmutzigen und grauen Moskau. Hier vergesse ich einen kurzen Moment meinen tristen Alltag“, sagt eine Sekretärin, die dafür fast jeden Tag eine Stunde Warten in Kauf nimmt.

Für Jugendcliquen aller Art ist es zum Treffpunkt Nummer eins avanciert — das Puschkin-Denkmal hat ausgedient. Ob tags oder abends, ob Sonne oder Regen, man steht in Grüppchen herum und palavert. Rollerskater pesen durch; es herrscht ständiges Kommen und Gehen. Ab und an besorgt jemand den draußen Stehenden was zu futtern. Um neun Uhr abends wird es dann spannend: Ein Rockerklub taucht auf, alle in schwarzem Leder auf schwarzen alten Motorrädern, Ural, Dnjepr, BMW, Harley. Sie sammeln sich am Ende der Straße, einer wird abgeordert, die Karren zu bewachen. Die anderen stiefeln geschlossen auf den Eingang von McDonald's zu. Einige Unwissende halten den Atem an und fürchten Mord und Totschlag. Die Wissenden nützen die Gunst der Stunde und klinken sich ein. Die Gang hat nämlich dank eines „special agreement“ mit dem Management „Diplomatenstatus“ und wird jedesmal ohne Schlange hineingelotst.

Ab 23 Uhr ist jedoch auch hier Feierabend, und der Bürgersteig wird hochgeklappt. Ein Teil der Leute schiebt ab nach Hause, die Rocker werden die Nacht wohl wieder auf ihren Böcken verbringen, andere ziehen in kleineren Gruppen vondannen — kiffen ist angesagt. Wenn früher bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen wurde, so wird jetzt geraucht, bis die Augen gerade mal noch einen halben Millimeter offen bleiben, um den Weg nach Hause zu finden. Die Qualität ist so genial, daß allein der Rauch schon ausreicht, um die Umstehenden glücklich zu machen.

Russische Volkshalluzinationen

Anlässe für glückliche Gesichter gibt es auch selten genug. Pjotr Mamonow, Ex-Svuki-Mu, ist so ein Zauberkünstler, der ohne Werbung fünf Tage lang mit seiner neuen Band ausverkaufte Konzerte gibt, eine Mischung aus Residents und Talking Heads mit russischer Seele. Meist karikiert Mamonow sich selbst: verbitterter Trinker, charmanter Gauner und weiser Narr in einer Person. Seine Texte bezeichnet er als „russische Volkshalluzinationen“. „Ich werde müde, ich leg' mich ins Bett, das Bett quietscht und rattert unter mir. Nachts wünsch' ich mir immer, daß mich niemand weckt, wenn es Morgen wird.“

Ein anderer Song, Graue Taube: „Ich bin schmutzig. Ich bin erschöpft. Mein Hals ist dünn. Deine Hand zittert nicht, wenn du ihn ausrenkst. Ich bin schlimm und ekelhaft. Ich bin schlimmer als du. Niemand kann mich leiden. Ich bin Abfall. Ich bin Dreck. Aber ich kann fliegen.“

Hierbei bewegt er sich wie ein fliegender Vogel oder ein Mann, der am Galgen zuckt — ein epileptischer Showman, gegen den David Byrne alt aussieht. Das Publikum gibt „standing ovations“. Rundum verklärte und entspannte Gesichter. Einige sind bereits zum dritten Mal hintereinander hier.

Leningrad und das Rockidol Zoj

Einer, der es ebenso verstanden hat, für die Zeit seiner Konzerte die Leute in eine andere Welt zu entführen, ist vor kurzem bei einem Autounfall ums Leben gekommen, das Rock- und Filmidol der sowjetischen Jugend: Viktor Zoj. Nach 40 Tagen darf nun sein Grab besucht werden — wir fahren mit dem Nachtzug nach „Pieter“. Die Stadt ist übersät mit Graffiti, „Viktor ist mit uns“ oder einfach „Zoj!“. Trotz Regens ist der abgelegene Friedhof voller Fans, die Totenwache halten und um „Witja“ weinen. Berge von Blumen, Fotos, Gürteln, Stirnbändern, Badges, Kerzen, Gedichten, Briefen. Musikkassetten laufen. Alle kennen die Texte, mit jedem Lied ist ihre eigene Geschichte, sind ihre eigenen Sehnsüchte verbunden.

„Es regnet seit dem Morgen, meine Taschen sind leer, meine Uhr zeigt sechs, ich hab' weder Zigaretten noch Feuer. In mein Zimmer dringt kein Licht, ich hab' Zeit, doch kein Geld, und keine, die auf mich wartet.“ Der Song Wir wollen Veränderungen ist längst Hymne: „Wir wurden in kleinen Wohnungen neuer Bezirke geboren. In den Schlachten der Liebe verloren wir die Unschuld. Die Hoffnungen, die ihr uns gabt, und die Kleider, die ihr uns gemacht habt, sind zu eng. Heute wollen wir euch erzählen, daß wir nun an der Reihe sind.“

Im Hof des Rockklubs, wo wir uns Karten für das Konzert zu Ehren Zojs besorgen, hängen ebenfalls Jugendliche herum, tauschen Fotos, Poster, Kassetten, und einer singt trotzig zur Gitarre: „Wir sind stark und haben Energie. Mit erfrorenen Fingern machen wir Feuer, um alles ins Rollen zu bringen.“

Gimme some truth!

Wir werden eingeladen, das skurrilste Rock'n'Roll-Museum der Welt zu besichtigen. Im Stadtzentrum, Hinterhof, fünf Treppen, Kommunalwohnung, hat Kolja Wasin alles mögliche zu Elvis und den Beatles zusammengetragen: Platten, Plakate, Badges, Fanzines, Fotos, Souvenirs, selbst die „blauen Wildlederschuhe“ fehlen nicht. Kolja lebt und schläft hier seit über dreißig Jahren. Seine Beatlemania begann, als ein Freund ihm die Aufnahme einer BBC-Radiosendung vorspielte. „Es war himmlisch. Ich fühlte mich gesegnet und unbesiegbar. Alle Depressionen und Ängste der letzten Jahre verschwanden. Ich verstand, daß alles, was nicht Beatles war, eigentlich Unterdrückung war.“

Auch heute lautet sein erster Toast: „Gimme some truth!“ Während er erzählt, wie er zum Hippietum kam — „als ich das Cover von Abbey Road zum ersten Mal sah, zog ich meine Schuhe aus und lief barfuß durch die Stadt; das war meine Herausforderung, mein Versuch, mich auszudrücken“ —, klingelt es an der Tür. Zwei Fünfzehnjährige haben den weiten Weg von Archangelsk nach Leningrad auf sich genommen, um Kolja persönlich ihr Beatle-Fanzine zu überreichen. Kolja ist der ungekrönte Papst der Leningrader Rockszene, ein wandelndes Beatles- Lexikon. Musiker geben sich die Klinke in die Hand; zum 50. Geburtstag von John Lennon ist ein großes Gedächtniskonzert geplant, letzte Vorbereitungen werden getroffen. Zwei der Musiker, mit denen wir gerade anstoßen, sehen wir am nächsten Abend auf der Bühne wieder — im überfüllten Leninstadion.

Mischa Borsykin von Televisor schleudert seine Texte so leidenschaftlich ins Publikum, als könnte Zoj dadurch wieder lebendig werden. Am eindrucksvollsten jedoch DDT und Juri Schevtschuk. Er kniet am Bühnenrand, sucht den Kontakt mit den Kids. Bissige, satirische Texte zeichen seine Lieder aus und eine Stimme, die jeden Nerv deines Körpers trifft: „Kein Schritt zurück, nur vorwärts!“

One day my princess will come ...

Der Enthusiasmus der Liedermacher wird leider nur von wenigen Jugendlichen in den Alltag getragen. Die fatalistisch-apathische Haltung der Eltern war prägend. Sie sagen: „Es ist nicht meine Schuld, daß wir so leben müssen. Wieso sollen wir den Karren aus dem Dreck ziehen? Die da oben werden's schon machen.“ Es gibt immer noch keinen Treffpunkt, kein selbstverwaltetes Café, keine Kneipe. „Nilsja“, man darf nicht, es ist unmöglich, entgegnen sie mir. Doch diese Entschuldigung gilt nicht mehr. Die Zeiten haben sich geändert, und noch nie standen die Chancen so gut, etwas auf die Beine zu stellen.

„Wir werden besser leben“, sagt Gorbatschow beschwörend in die TV-Kamera, während die Kids weiterhin den Tag damit verbringen, den Alkohol für das abendliche Besäufnis zu organisieren und in der Schlange von der amerikanischen Braut träumen, mit deren Hilfe sie diesem Land den Rücken kehren können. „Lieber schlecht in Amerika leben, als so ,gut‘ wie jetzt hier!“ Allein in der US-Botschaft liegen 1,5 Millionen Anträge von SowjetbürgerInnen. Doch nur 50.000 pro Jahr dürfen nach der vom Kongreß festgelegten Quote in die Staten einreisen. Das wissen die meisten. Überhaupt der ganze Papierkram, und die Braut hat sich ja auch noch nicht blicken lassen! Also weiter nach dem Motto der Moskauer Band DK: „Das Leben ist Scheiße, verstehst du! Lach und sei glücklich. Wohin du auch gehst — Wein. Quäl dich nicht, sauf dir einen an.“

Nach vier Wochen ist mein Toleranzpensum erschöpft. Ich finde keine Entschuldigung mehr für das, was um mich herum passiert. Nicht für die Jungs, denen Alkohol wichtiger ist als Liebe und Zärtlichkeiten, nicht für die Mädchen, die stolz ihre gebrochene Nase oder das blaue Auge zur Schau tragen, das ihnen Freund oder Mann beigebracht haben, nicht für die Abtreibungen, die aus Mangel an Verhütungsmitteln die Frauen über sich ergehen lassen müssen, nicht für den Rassismus und den Homosexuellenhaß, nicht für die Verkäufer, die mit Postern von nackten Frauen und obskuren Sextips Profite machen, nicht für die Schule, die im falsch verstandenen Perestroika-Wahn für zwölf- bis sechzehnjährige Mädchen einen Schönheitswettbewerb organisiert, nicht für das gammelige Gemüse, das im staatlichen Laden liegt, nicht für die Kiffer, die mir nahelegen, das alles nicht so tragisch zu nehmen, nicht für den Dreck in den Straßen, die heruntergekommenen Häuser, die versifften Kinderspielplätze, nicht für die Schlange von Alkoholikern, die für billiges Eau de Cologne anstehen, nicht für die leeren Bäckereien.

Ich finde keine Entschuldigung mehr für diesen IRRealen Sozialismus, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

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