: Der Herr, der Diener und die Schweine
■ Patrick McGraths (palä)ontologischer Schauerroman „Groteske“
Sir Hugo Coal ist ein Mann von, wie er selbst zugibt, „relativ düsterer Förmlichkeit“, ein ziemliches Ekel mithin. Zunächst einmal, weil der Landjunker von Crook Manor ganz Herr ist und Frau wie Domestiken als Knechte behandelt (und als Parvenüs fürchtet); ein Herrschaftsverhältnis, das, wie wir seit Hegel wissen, dank der List der Vernunft welthistorischen Trost bereithält. Sodann, weil der wenig menschenfreundliche Gentleman, der uns seine bizarre Groteske erzählt, von Mutter Natur mit schwarzem Humor, um nicht zu sagen: Zynismus, und einem, um es vorsichtig auszudrücken, griesgrämigen Charakter in den Kampf ums Überleben entlassen wurde. Und schließlich, weil der glücklose Naturforscher, dessen kühnen paläontologischen Hypothesen von der Vogelnatur der Dinosaurier in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf reserviertes Schweigen stoßen, alles, was da kreucht und fleucht, mit der höheren Kaltblütigkeit des Darwinisten betrachtet. Zum Beispiel die Kröte Herbert, der Hugos Butler, Mr. Fledge, dem jede „natürliche Zuneigung zu Kröten“ abgeht, immer zum Fünfuhrkaffee einen Teller weißer Maden im Salon servieren muß. Sir Hugos naturphilosophisches Credo kennt nämlich keine Phänomene zweiter Klasse, und er begreift schon von Berufs wegen die Atavismen und vorsintflutlichen Instinkte, die noch im Homo-sapiens wühlen, als den besten Teil der menschlichen Natur. „Krankheiten, Infektion, Verwesung, Schmutz, Exkremente, Maden — sie alle sind Teil des vielgemusterten Stoffes, aus dem das Leben gemacht ist, und jeder, der eine einigermaßen vernünftige, wissenschaftliche Einstellung vertritt, sollte alle derartigen Facetten der Natur willkommen heißen, die in jeder Hinsicht ebenso wundervoll sind wie Goldadler und Eichen und zerklüftete Felstäler.“
Die naturwissenschaftliche Objektivität Sir Hugos wird in Patrick McGrath schaurigschönem Roman freilich auf eine harte Probe gestellt — und glanzvoll desavouiert. Am Ende, im Frühjahr 1950, weiß er nämlich nicht mehr so recht, ob der Schlaf seiner Vernunft die Ungeheuer um ihn herum geboren hat oder ob er selber die authentische Groteske ist. Und auch der Leser fragt sich verunsichert, ob der wenig sympathische Edelmann, der nach einem „zerebralen Unfall“ (über dessen Vorgeschichte er offensichtlich nur höchst ungern spricht) gelähmt und stumm in der Grotte seiner Knochen verdämmert, ihm nicht doch die Halluzinationen seiner sinnlichen Deprivation (der Butler dreht Sir Hugos Rollstuhl gern zur Wand, und „Phantasie tendiert beim Fehlen sensorischer Informationen immer zum Grotesken“), soziale Projektionen und unterdrückte sexuelle Obsessionen als Fakten aufgebunden hat.
Die „Verwechslung von Logos und Eros“ gehört zu den gängigsten Verirrungen der Vernunft. So hat denn die Hypothese einiges für sich, nicht der Butler, dem Hugo in seinem Sozialdarwinismus und seiner Eifersucht eine „bolschewistische“ Aura des Bösen andichtet, habe sich Sidney, dem Verlobten von Sir Hugos Tochter Cleo, in unnatürlicher Absicht genähert, sondern der zwielichtige Erzähler selbst, der sich den „herrlichen Penis“ des doppelt perversen Fledge so lebhaft ausmalt, phantasiere in seinem Rollstuhl die verabscheungswürdigen Freuden der gleichgeschlechtlichen Unzucht. Und ob sein „zerebraler Unfall“ sich wirklich nur einer dämonischen Attacke des Butlers verdankt und nicht doch eher der — polizeilich verbürgten — Tatsache, daß der arme Sidney eines Nachts abgeschlachtet wird und ziemlich verschimmelt wiederkehrt: Wer will entscheiden, was zum freudianischen „Familienroman des Neurotikers“ gehört und was wirklich in jener Nacht geschah? Der altkluge Knabe Victor, der vom Vatermord der Urhorde faselt, gewiß nicht. Sicher ist jedenfalls, daß der knorrige Gärtner und seine wenig gesellschaftsfähigen Freunde aus dem Dorfpub in moralischer Hinsicht bedenkliche Mängel zeigen: Oder wer wird schon einen Menschen, bloß weil es „kein Einheimischer“ ist, den Schweinen zum Fraß vorwerfen? Aber was kann Sir Hugo, der lebendig fossilierte Dinosaurier, dafür, wenn seine kataleptisch verstümmelten Lebensäußerungen dank einer Laune der geliebten Natur an das Grunzen eines Schweins erinnern? „Nil desperandum“ lautet der Wappenspruch der Coals: Es gibt keinen Grund zum Verzweifeln. „Die Lebenden“, seufzt Sir Hugo morbid, „sind Larven der Toten.“
Man darf die horrible und schweinische Geschichte nicht ganz verraten, und man kann sie auch nur schlecht nacherzählen, weil der Krüppel, an sich ein Fanatiker der wissenschaftlichen Empirie, sie nur umständlich und verdächtig wenig exakt, in vagen Bruchstücken, paläontologischen Alpträumen und Ausweichmanövern mitteilt, so daß wir die Fakten durch Phantasie rekonstruieren und die schreckliche Wahrheit induktiv, gleichsam aus den versteinerten Fußabdrücken des Phlegmosaurus carboniensis, erschließen müssen.
Es gibt in der modernen Literatur, seit sie sich der Zerstörung der realistischen Illusion verschrieben hat, Romane, in denen das Ende des Textes mit dem Tod oder auch der Selbstauflösung des Autors zusammenfällt; es gibt Krimis, in denen der Detektiv oder gar der notorisch unschuldige Chronist sich als Täter entlarvt. Patrick McGraths erster Roman ist all dies und noch einiges mehr: eine Satire auf die moderne Naturwissenschaft, diktiert von einem stummen Erzähler, der sich selber nur eine „neuropathologische Identität“ zubilligte; und eine listige Paraphrase von Hegels Herr- Knecht-Dialektik: Der Knecht erarbeitet sich in der Furcht des Herrn das Selbstbewußtsein (und die Frau des Hauses), dieweil der Herr selber sich in der Küche an die Begierde (und den Alkohol) verliert und „ontologisch tot“ dahinvegetiert, einzig noch seiend durch „den Haß eines schurkischen Dieners“. Und schließlich und vor allem ist Groteske ein viktorianischer Schauerroman, dessen Erzähler, behaglich am Kaminfeuer sitzend, auf allen Register des Genres (Vampirismus & Kannibalismus, Zombies, das Spukhaus und das „stinkende, böse Ding“ im Moor) orgelt. Wurde der in New York lebende Engländer McGrath, Jahrgang 1950 und Sohn eines berühmten Gerichtspsychiaters, nach seinem ersten makabren Erzählband Blut und Wasser nur mit Poe und Lovecraft verglichen, so reicht der Klappentext nun auch noch Evelyn Waugh, Agatha Christie und Oscar Wilde nach; John Hawkes hat den Roman sogar als Kreuzung zwischen Henry James und Iris Murdoch definiert. Wahr daran ist jedenfalls, daß dieser scheußlich nach Blut und Verwesung stinkende Leckerbissen dem Leser außerordentlich süffig hinuntergeht. Martin Halter
Patrick McGrath: Groteske. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek, S. Fischer, 240 Seiten, 34 D-Mark.
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