: Der Erfolg der Perestroika wäre das Ende Gorbatschows
■ Nur 21 Prozent der Sowjetbürger wollen „Gorbi“ — die Perestroika zog an ihm vorbei/ Gorbatschow regiert das Land mit autoritären Vollmachten
Michail Gorbatschow wird der erste und der letzte Präsident der Sowjetunion sein. Denn es ist so gut wie sicher, daß es nach den vier Jahren und drei Monaten, die er sich bis zur nächsten — und ersten freien und geheimen — Präsidentenwahl gewährt hat, eine Sowjetunion als „sozialistischen“ Einheitsstaat nicht mehr geben wird. Ebenso sicher ist, daß Michail Sergejewitsch diese Wahlen, fänden sie heute statt, verlöre. Die letzten Umfrageergebnisse zeigen, daß der Prozentsatz der Gorbatschow-Anhänger in der gesamtsowjetischen Bevölkerung seit Dezember 1989 von 52 Prozent auf 21 Prozent gesunken ist.
Dennoch gilt Gorbatschows für viele heute als unersetzlich. Wie keiner seiner Opponenten beherrscht er die „Kunst des Möglichen“. Dies gilt für seine flexible Art, seinen breiten Horizont, sein Selbstvertrauen, das ihn befähigt, politisch und geographisch neues Terrain zu betreten. Es gilt für seine authentische Anteilnahme an den Sorgen des kleinen Mannes, die auch der Nahaufnahme standhält.
Natürlich war die Entscheidung für die Perestroika nicht die Entscheidung eines einzelnen, sondern eine in wichtigen Schichten der sowjetischen Gesellschaft herangereifte Notwendigkeit. Doch auch die Geschichte kann ihre Wahl nur verwirklichen, wenn entsprechende Kandidaten zur Verfügung stehen. Ob jedoch „ein Gorbatschow“, wie wir ihn heute als Konstruktion von Ämtern und Vollmachten vor uns sehen — etwa als Vergleichsbegriff zu einem „Bonaparte“ — politisch möglich ist?
Daß ein und dieselbe Persönlichkeit eine zum Totalitarismus neigende Partei und einen demokratischen Staat zur jeweiligen Zufriedenheit führen kann, erscheint ebenso unwahrscheinlich wie die romantische Konstruktion eines Präsidenten für fünfzehn souveräne Staaten, die sich noch nicht einmal entschieden haben, in welchen Formen sie künftig miteinander verkehren wollen. Die immer neuen Vollmachten, nach denen der Präsident gerufen hat, fanden bis jetzt vor allem in Ausnahmeverordnungen und in der Verhängung des Kriegsrechtes in einzelnen Landesteilen ihren Niederschlag. Für die Bürger der Sowjetrepubliken ist es deshalb nicht so sicher, daß Gorbatschow sich nicht auch an die Spitze eines konservativen Putsches stellen könnte.
„Werdet Ihr ihn in der Bundesrepublik wieder so bejubeln? Begreift ihr denn nicht, daß Gorbatschow nicht der Freund unseres Volkes ist, sondern sein Feind?“ fragte eine alte Frau die taz-Korrespondentin während der Demonstrationen zum 7. November. Die freundliche Auskunftsbereitschaft gegenüber westlichen Korrespondenten schlägt auf den Moskauer Straßen in Aggressivität um, wenn vom Gorbatschow- Bild jenseits der eigenen Grenzen die Rede ist. Gewiß erhofft sich auch der einfache Bürger Hilfe vom Ausland, gewiß könnte auch das Ausland heute noch Gorbatschow persönlich helfen, wenn die entsprechenden Warenlieferungen auch beim Wähler ankämen. Bis heute jedoch bedeutete solche Gorbatschow-Hilfe immer eher eine Stabilisierung des alten Nomenklaturasystems mit seinen Privilegien.
Als die Perestroika den zweiten Gang einlegte, konnte ihr Initiator nicht mehr mithalten. Der Übergang zum Mehrparteiensystem und zur Marktwirtschaft, das Bekenntnis zu einem neuen Unionsvertrag, die Abschaffung von Artikel 6 über die Vorherrschaft der Partei im Staate, all diese Neuerungen wurden viel zu spät vom heutigen Präsidenten vollzogen, ohne seine Initiative — und wie es vielen scheint — gegen seine Überzeugung. Am meisten Sympathie jedoch hat Gorbatschow durch sein Verhalten im Parlamentspräsidium verspielt, durch die zynische Überheblichkeit, mit der er Abstimmungen, die zu seiner Unzufriedenheit ausgefallen sind, wieder und wieder ansetzt, durch die kleinliche Benachteiligung politischer Gegner und durch seine patriarchisch-rechthaberischen Monologe. Ein Volk in der Phase des Erwachsenwerdens ist, wie alle Teenager, gegen Bevormundung überempfindlich. Ob die Gründe nun in der Psyche des Präsidenten liegen oder anderswo, fest steht, daß konservative Kreise in Partei, Armee und KGB noch immer Macht über Michail Sergejewitsch haben. Sollten diese Kreise politisch obsiegen — und sei es mit seiner Hilfe — werden sie dem Menschen Gorbatschow nicht verzeihen, daß er sie vor fünf Jahren aus ihren warmen Betten gerissen hat.
Um seine politische Größe zu wahren, müßte Gorbatschow kontinuierlich auf politische Macht verzichten. Die Verstaatlichung des Parteivermögens, die Aufgabe der Parteikontrolle in Armee und KGB könnte ihm heute wieder Vertrauenskredit im Volke einbringen. Sollten es die neuen, frei gewählten Vertreter des russischen Volkes, die Jelzins, Popows, Stankewitschs, Sobtschaks und Galina Starowoitowas schaffen, ihre Macht jenseits der Parlamentswände zu verankern, wäre ein anfangs lockeres, doch friedliches Vertragsnetz zwischen den ehemaligen UdSSR-Republiken die unausweichliche Folge. Für die „Superamtsmannskonstruktion“ Gorbatschow wäre dann ein Nachfolger nicht mehr nötig. Für Michail Sergejewitsch gäbe es manches ehrenvolle Amt. Wenn er sich dann nicht als Verlierer empfände. Barbara Kerneck
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