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Kerniges aus dem Kiez

■ Ehemalige Besetzer der Cuvrystraße 20-23 feierten Jubiläum: Kerngehäuse wurde zehn/ Wohn- und Arbeitskomplex mit 100 Beschäftigten

Kreuzberg. Im Schatten der großen Feiern um den Fall der Mauer wurde am vergangenen Samstag im hintersten Winkel von Kreuzberg ein Ereignis begossen, daß in West-Berlin vor zehn Jahren wie eine Bombe eingeschlagen hatte: die Hausbesetzungen. Immer mehr meist junge Leute hatten damals die Wohnungsnot, Kahlschlagsanierung und Vertreibung der Mieter satt, mit denen sich Spekulanten und Wohnungsbaugesellschaften eine goldene Nase verdienten. Sie schritten kurzerhand zur Tat und besetzten die leerstehenden Häuser und Fabrikkomplexe, um sie in Selbsthilfe instandzusetzen. Aus einzelnen Besetzungen im Jahr 1979 entwickelte sich zusehends eine Lawine, die am 12. Dezember 1980 nach einer großen Straßenschlacht in Kreuzberg — die Polizei hatte die Besetzung eines Hauses verhindert und ohne Vorwarnung zu Schlagstock und Tränengas gegriffen — richtig losbrach. Das Kerngehäuse in der Kreuzberger Cuvrystraße, das sein zehnjähriges Bestehen feierte, zählt zu einem der ersten besetzten Häuser. Der Gebäudekomplex in der Cuvrystraße 20-23, eine ehemalige Nähmaschinenfabrik von 1879, wurde am 1. November 1980 nach dreijährigem Leerstand von rund 50 Leuten in Beschlag genommen. Sie verhinderten damit den Abriß und die Errichtung von teuren Neubauten. Besitzer des Komplexes war die stadtbekannte Abschreibungs- und Bauträgergesellschaft »Dr. Marx«. Jener hatte mit Hilfe der Baugesellschaften Mewes und Oldenburg zuvor nichts unversucht gelassen, die Häuser zugrunde zu richten, um eine Abrißgenehmigung zu bekommen. Nach zähen Verhandlungen war es den Besetzern 1983 schließlich gelungen, Marx das Haus abzukaufen. Auf eine Übernahme in Erbpacht, wie die Bewohner es eigentlich wollten, hatte sich Marx nicht eingelassen. Daß es »schon immer etwas besonderes war, im Kerngehäuse zu leben«, wie es am Samstag auf einer Stelltafel hieß, beweist die bunte Mischung in dem Gebäudekomplex. Viele der rund 50 Erwachsenen, die dort mit ihren 15 Kindern teils in Wohngemeinschaften, teils in Kleinfamilien leben, sind schon seit der Besetzung dabei. Der älteste Bewohner ist 43 Jahre, der jüngste drei Monate. Im Kerngehäuse wird aber nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet: in Metall- und Holzwerkstätten, einer Sprachenschule, einem Taxikollektiv und dem stadtbekannten »Büro für ungewöhnliche Maßnahmen«. In diesen Einrichtungen sind rund 70 Vollbeschäftigte und etwa 30 Teilzeitbeschäftigte tätig. Die Vielfalt und die Möglichkeit, einen Teil der Räumlichkeiten für soziale oder kulturelle Veranstaltungen zu nutzen, kommt auch dem Kiez zugute. Zu erwähnen bleibt, daß sämtliche Betriebe, Vereine und Initiativen im Kerngehäuse ohne Förderung von außen entstanden sind. plu

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