: Ich bin so leicht und habe fast keine Angst
■ taz-Reporter wollte es wissen: Von einem 66 Meter hohen Kran springen — nur gehalten von einem Gummiband
Mitte. Wieso hatte ich nur gesagt, daß ich da runterspringen will? Noch drei Leute sind vor mir, und der Franzose legt mir das Sprunggeschirr an. Er zurrt alles sehr fest, besonders um die Knöchel, so daß es fast wehtut. Nur die Beingurte bleiben locker. »Soll das so sein?« frage ich. Er sieht mich streng an: »If it should be different, it would be different.« Ich schäme mich ein wenig. Wie konnte ich an ihm zweifeln, wenn ich ihm mein Leben anvertraue? Er sieht aus wie ein Freikletterer, wie einer, der sich mit dem kleinen Finger an der Regenrinne festhalten kann. Wie oft er wohl schon von da oben...? Der Gedanke bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück — den ich nämlich gleich verlassen werde. Noch zwei vor mir. Seltsam, ich habe keine Angst. Es ist etwas stärkeres, gleichzeitig erschreckend und beruhigend. So muß sich der Verurteilte fühlen bei den ersten Anzeichen der Morgenröte. Noch einer vor mir. Er betritt den Korb und wird festgeschnallt.
Warum stehe ich nur hier? Ich bin neidisch auf die, die es schon hinter sich haben. Sie haben so ein Leuchten in den Augen und stammeln in einem fort: »Wahnsinn, unbeschreiblich, irre, unglaublich, sagenhaft...« Die Sonne scheint, der Tag ist warm und bekommt allmählich so etwas Unwirkliches für mich. Das liegt wohl daran, daß der Korb wieder unten ist, leer. Der Franzose winkt. Meine Beine machen ein paar Schritte. Ich bin nicht aufgeregt, bewege mich wie unter Wasser, im Traum. Dem mit dem großen Fall, der nie endet, bis man schweißgebadet aufwacht. Diesmal werde ich nicht aufwachen, ich werde ihn bis zu Ende träumen.
Ich stehe in der Gondel, der Franzose klinkt mich fest. »When I call you: take the rope! You will take it, d'accord?« D'accord. Der Korb hebt ab. Sanft, dann schneller. Der Reichstag taucht auf, die Kongreßhalle, der Funkturm. Die Erde ist rund, ohne Zweifel, und die Gesichter unter mir ganz klein. Nicht runtergucken! Genieß' lieber die Aussicht. Der Wind ist stärker hier oben. Ich bin so leicht wie eine Feder und habe fast keine Angst. Angst. Wir sind oben. 60 Meter über dem Pariser Platz. Ich soll auf den Fernsehturm zuspringen. Der glänzt im Sonnenlicht und sieht so aus wie immer. Der Franzose klinkt mich aus. Ich stehe auf einem schmalen Vorsprung fast neben der Gondel. An drei Seiten nichts. Die Gondel steht nicht im richtigen Winkel, damit ich Richtung Stadtmitte springen kann. Das ist wichtig, sonst kann ich beim Pendeln mit dem Kran zusammenstoßen. Wir schaukeln und drehen die Gondel. Jetzt stimmt's. »Let's go!« Bleiblau der Himmel und ganz groß. Ganz leer, leer. Luftholen. Sprung.
Der Horizont schießt hoch. Flug Windbrausen. Orgasmus. Es ist unbeschreiblich. Das Gummiseil fängt mich auf, 15 Meter über dem Boden, und schleudert mich wieder hoch. Das geschieht vier Mal. »Take the rope!« Ich stehe wieder auf der Erde — und erschüttern kann mich jetzt wohl nichts mehr. motz
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