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Die Geiseln von Kaiser Franz Joseph

■ Auszüge aus dem Tagebuch von Svetozar Corovic, der beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs wie viele weitere Serben als Geisel genommen wurde GESCHICHTE

Am 28. Juni 1914 wurden in Sarajewo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin ermordet. Nach allgemeiner Auffassung stand hinter dem Attentat eine serbische Geheimorganisation in höchstem Auftrag. Der Mord war Auslöser und Vorwand für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Bosnien und Herzegowina waren 1908 von Österreich annektiert worden. Damit wurden auch viele Serben Untertanen der Krone. Gegen sie richtete sich der teils gelenkte, teils geduldete Volkszorn. In der Herzegowina wurden zahlreiche serbische Intellektuelle verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Es gab Pogrome.

Mit der Kriegserklärung Österreichs an Serbien, am 28. Juli 1914, wurden die Verhafteten zu Geiseln erklärt, unter ihnen befand sich auch der bekannte serbische Schriftsteller Svetozar Corovic (1875-1919) aus Mostar. Er beschrieb sein Schicksal in seinen Aufzeichnungen einer Geisel. Es wurde ein Tagebuch des Todes, das erschütternd aufzeigt, wie „Angehörige eines Kulturvolks“ im Krieg verkommen können.

Geiseln müssen jeden Eisenbahntransport begleiten

Am Nachmittag erfuhren wir, daß Serbien der Krieg erklärt worden war. Sie befahlen uns, uns im Hof zu versammeln. Sie ließen uns in zwei lange Reihen wie Soldaten aufstellen, und ringsum stellten sie Wachen auf. Dann stellte sich der Profoß breitbeinig hin, warf sich stolz in die Brust und begann mit kräftiger, wohlgeformter Stimme, uns den Befehl des Kriegsministeriums vorzulesen.

Er erklärte uns zu Geiseln. „Sie werden mit Ihrem Leben für jeden eventuellen Unfug, für Aufstände, Ausschreitungen unter der Bevölkerung haften. Wenn man irgendwo eine Bombe legt, wenn man einen Stein auf den Eisenbahnschienen findet, wenn eine Brücke beschädigt wird oder überhaupt ein militärisches Objekt, werden dafür Geiseln erschossen, und zwar ohne irgendwelche Untersuchungen und Verfahren.

Geiseln müssen jeden Eisenbahntransport begleiten. Ereignet sich unterwegs ein Unglück, wird die den Transport begleitende Geisel erschossen. Versucht sie zu fliehen, Widerstand zu leisten, sich zu weigern, wird sie erschossen. Im übrigen wird man mit den Geiseln ordentlich umgehen.“

Ruhig hörten wir uns den Befehl an. In diesem unserm schönen Lande konnte uns nichts mehr überraschen. Daß eine Staatsmacht Menschen, die sie als ihre Untertanen betrachtet, als Geiseln nimmt, daß sie sie zwingt, für Gott wer weiß wessen — vielleicht sogar bestellte — Ausschreitungen und Übeltaten zu haften, das übertrifft alles Unrecht, das je irgendwo in der Welt begangen wurde.

Erschießen ist umsonst

Als wir am nächsten Morgen zum Spaziergang hinausgingen, teilten sie uns mit, daß wir für die Reise bereit sein sollten, sprich: zur Begleitung eines Transportes.

Den ersten Transport mußten zwei Popen begleiten. Da uns der Profoß bei der Einlieferung alles Geld abgenommen hatte, erhielt jetzt jeder, der auf Reise ging, fünf Kronen von seinem eigenen Geld für Essen und andere eventuelle Ausgaben. Man wußte nicht, wie lange man reisen, wie lange man sich am Zielort aufhalten würde, doch man gab uns von unserem eigenen Geld diese unbedeutende Summe, die nicht einmal für einen Tag ausreichte. „Im übrigen“, erklärte uns der Profoß tröstlich, „haben Geiseln keine Zeit, viel Geld auszugeben. Sie müssen nicht lange warten, bis sie erschossen werden, und da das Erschießen umsonst ist, was sollen sie mit größeren Summen?“

Seit Rußland am Krieg teilnahm, wurden auch die Transporte häufiger, und die Nachfrage nach Geiseln stieg. Immer wieder kam der kleine Telefonist mit dem geteilten Bart und suchte drei, sechs oder acht. Ganze Gruppen schickten sie in Begleitung bewaffneter Soldaten zum Bahnhof. Von keinem wußte man, wohin er führe, wie weit er kommen würde. Wer zurückkam, erzählte von seinen Erfahrungen. Kaum einer, der nicht angespuckt, beschimpft oder sogar geschlagen wurde. Riste Piceta drohten sie mit dem Tod, sie besprachen sich laut, wie sie ihn umbringen wollten. Peter Mandrap schoben sie in einen Waggon zwischen die Pferde und befahlen ihm, sich niederzukauern und sich ja nicht von der Stelle zu rühren. Ein unruhiges Pferd stieß ihn immer wieder gegen das Knie und zerriß ihm die Hosen, während ihm gleichzeitig ein Bewacher Haar um Haar aus dem Kopf riß.

Jeder wartete darauf, daß die Reihe an ihn käme

Wenn wir auf der Reise mit Geiseln aus anderen Orten zusammenkamen, hörten wir von schlimmen Ereignissen. Den Popen Grurević aus Zenice hatten sie auf einer Brücke festgebunden, mit dem Gesicht gegen die Sonne. Den Popen Popović zwangen die Soldaten, eine volle Stunde neben den Eisenbahnschienen herzulaufen. Hafis Djumkur, einem Hodscha aus Konjica, ließen sie die Aborte leeren, wozu er die Kübel mit den Fäkalien durch die ganze Stadt tragen mußte. Auf der Ivan-Höhe erschossen sie Milan Mrkajić und den Förster Petrović, weil irgend jemand in der Nacht einen Gewehrschuß abgegeben hatte, während der Zug vorbeifuhr. Man glaubte fest daran, daß auf diese Weise schließlich alle Geiseln, eine nach der andern, getötet würden. Jeder wartete darauf, daß die Reihe an ihn käme.

Nach einer gewissen Zeit schien es, daß sie uns auch einige Erleichterungen gewährten... Es wurde uns jetzt erlaubt, auf die Reise mehr Geld mitzunehmen, und man trug Sorge, daß wir nicht immer in den sogenannten Schweinewaggons fahren mußten. Außerdem mußte von jetzt ab bei jeder Geisel ein Bewacher aus Mostar sein, dessen Name zusammen mit dem der Geisel ins Wachbuch eingetragen war, das der Posten mit sich trug. Oh, das war schon ein großer Gewinn! Bisher hatte keiner die Geisel nach dem Namen gefragt, noch wurde er aufgeschrieben. Ein namenloser Wachposten zusammen mit einer namenlosen Geisel auf Reise; was auch passierte, er konnte mit ihr machen, was er wollte, ohne befürchten zu müssen, daß er angezeigt oder gar bestraft werden würde. So geschah es, daß einige Wachposten, weil sie dafür wohl keinen anderen Platz wußten, auf der Stirn von Djordo Capin Nüsse aufklopften... Unaufhörlich mußten wir sie begleiten: Ochsen, Soldaten, Pferde, Munition. Was mich betrifft, so habe ich am liebsten Ochsen begleitet. Mit ihnen war es am ruhigsten...

Hochverräter verteidigen das Kaisertum

Im Krankenhaus brachten sie mich in eine Gefangenenbaracke. Die Bewachung im Zimmer wurde alle zwei Stunden ausgewechselt, bei Tag und bei Nacht. Man konnte niemals einschlafen. Die Ernährung war schlecht, unheimlich dürftig. Sie hielten uns schlimmer als im Gefängnis. Kein Spaziergang war erlaubt.

Nachdem ein Konsilium mich auf Bitten meiner Familie untersucht hatte, wurde ich auf Fürsprache von Freunden zu Hause interniert. Der Offizier, der mir den Beschluß vorlas, sagte, daß ich immer noch eine Geisel und seiner Kontrolle unterworfen sei, bei Tag und bei Nacht könne er jederzeit kommen, um sich zu überzeugen, daß ich auch wirklich zu Hause sei.

Eines Nachmittags erschien bei mir im Hause ein Polizist. „Morgen früh um schs Uhr müssen sie am Bahnhof sein. Sie fahren nach Bihac ins Lager.“ Nach kurzer Zeit mußte ich wieder ins Krankenhaus. Dort begannen sie dann auch bald, uns für den Dienst in der Armee auszumustern. Bis gestern waren wir noch Hochverräter und Verdächtige — und was sie sonst noch an Beinamen erfanden — jetzt zwangen sie uns auf einmal, das Kaiserreich und die Dynastie zu verteidigen!

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