Italien: Verfassungskrise wegen Nato-Geheimdienst

Venezianischer Staatsanwalt lädt Staatspräsidenten als Zeugen/ Der will aber nicht / Weitere Nato-Staaten geben Seilschaft zu  ■ Aus Rom Werner Raith

Alles sah zunächst wie eine übliche Palastintrige aus, wenn auch mit den makabren Mitteln der Instrumentalisierung des vor mehr als einem Jahrzehnt entführten und ermordeten Politikers Aldo Moro. Ziel: Die Diskreditierung einiger Bewerber um das 1992 neu zu besetzende Amt des Staatspräsidenten. Doch nun droht sich alles unversehens zur kaum mehr lösbaren Staats- und Verfassungskrise auszuweiten. Lediglich 1978 kam es zu einem vergleichbaren politischen Erdbeben als Staatspräsident Giovanni Leone wegen des nicht ausräumbaren Verdachts, er habe vom Lockheed-Flugzeugkonzern Schmiergelder angenommen, zurücktrat.

Der „offizielle“ Auslöser der Krise scheint dabei eher harmlos: Der venezianische Untersuchungsrichter Felice Casson, der seit mehr als einem Jahrzehnt versucht, Licht in einige mysteriöse Attentate und kriminelle Machenschaften politischer Seilschaften in Geheimdienst und Administration zu bringen, will jetzt Staatspräsident Francesco Cossiga als Zeugen in einem Verfahren um Vernebelung und Strafvereitelung im Zusammenhang mit rechtsterroristischen Anschlägen laden. Auf diese Idee war er gekommen, als er in den neu aufgefundenen Aufzeichungen Moros Hinweise auf eine geheime, nicht einmal den offiziellen Nato-Stellen bekannte, Organisation zur Ausbildung von Guerilla-Einheiten bemerkte und als wenige Tage danach Ministerpräsident Andreotti zugab, daß eine solche Einrichtung existiert hat — oder noch existiert — „wie auch in anderen Nato—Staaten und wie in geltenden Geheimabkommen beim Nato-Beitritt festgelegt“. Bestätigungen dafür sind, nach anfänglichem Leugnen, mittlerweile aus Griechenland, Belgien und am Wochenende auch aus Frankreich erfolgt.

„Ministerpräsidenten wußten Bescheid“

Dem Vernehmen nach soll die gesamte Aktion im Nato-Bereich unter dem Namen „Solo“ gelaufen sein. Da Ministerpräsident Andreotti auch erklärte, seit der Installation der Geheimeinrichtung seien alle Ministerpräsidenten über die Existenz dieser „Operation Gladio“ genannten Organisation unterrichtet gewesen, lädt Casson nun reihenweise die ehemaligen Amtsträger der 60er und 70er Jahre vor und fragt sie, ob vielleicht bei den vor ihm verhandelten Attentaten oder deren Deckung nicht auch Gladio seine Hand im Spiel hatte. Untersuchungsrichter Casson steht nicht allein — und dies nicht nur deshalb, weil er hohes Ansehen genießt (er ist schließlich der einzige Ermittler, der jemals Täter eines rechtsterroristischen Anschlags hinter Gitter bringen konnte): Mit ihm hegt ein ansehnlicher Teil der Öffentlichkeit den Verdacht, daß Gladio keineswegs nur dem Kampf gegen mögliche Invasoren diente, sondern auch das innenpolitische Ziel verfolgte, die damals bei allen Wahlen kräftigst zulegenden Kommunisten von der Regierung fern zu halten.

Von Staatspräsident Cossiga, der in den 70er Jahren Staatssekretär im Ministerpräsidentenamt, Innenminister und schließlich auch Regierungschef war, möchte Casson denn auch speziell wissen, ob Gladio nicht auch für jene „Strategie der Spannung“ verantwortlich ist, die von rechtsextremistischen Gruppen und Dunkelmännern der politisch kriminellen Geheimloge „Propaganda 2“ mithilfe von Bombenattentaten aufgebaut wurde, um das Land zu verunsichern und wieder ins konservative Lager zu treiben.

Solche Fragen sind denn auch der Grund, warum Staatspräsident Cossiga sich ganz und gar nicht zur Sache einlassen möchte: Gibt er zu, sich mit der geheimen, jeder parlamentarischen Kontrolle entzogenen Einrichtung befaßt zu haben, muß er auch mit seinem Wissen über deren „weitere“ Ziele herausrücken, und das könnte ihn nicht nur Ansehen, sondern auch sein Amt kosten. Hat er aber aus Unterwürfigkeit gegenüber den Alliierten die Augen geschlossen, diskreditiert er sich genauso (als unfähiger und dem Lande nicht dienender Regierungschef) und käme wohl auch so um den Rücktritt nicht herum. Die Linksunabhängigen und die Demoproletarier haben ihn daher auch schon zur Demission aufgefordert.

Katastrophe für Regierung in Rom

Cossigas Rücktritt aber wäre für die gesamte Regierung derzeit eine Katastrophe. Erstens hat keine der fünf Koalitionsparteien einen konsensfähigen Aspiranten parat, zweitens sind die Partner sowieso total zerstritten und peilen nächstes Frühjahr Neuwahlen an. Darum üben sich die Minister und ihr Chef Andreotti derzeit im Scheibenschießen — auf den jungen Staatsanwalt aus Venedig. So behaupten die Sozialisten und die Republikaner, Casson habe einige Verfahrensregeln nicht eingehalten (was dieser bereits entkräftet hat), die Christdemokraten fordern ein Disziplinarverfahren gegen ihn, weil er bereits vor mehreren Monaten in Zeitungsartikeln gefordert hatte, daß der Staatspräsident endlich Stellung nimmt zu Vorwürfen, er habe mit dem Chef der Geheimloge „Propaganda 2“, Licio Gelli, enge Kontakte unterhalten. Und Justizminister Vassalli modelte das Ganze dann auch noch zur Lachnummer um — das seit einem Jahr geltende neue Strafprozeßrecht, von ihm selbst ausgearbeitet und mit der ausdrücklichen Erlaubnis versehen, den Staatschef als Zeugen vorzuladen, sei sowieso verfassungswidrig.

Untersuchungsrichter Casson hat, trotz seiner erst 35 Jahre, auch diesen uralten Trick vorausgesehen. Und so erklärte er denn fröhlich, er habe gar nicht nach dem neuen, sondern nach dem alten Prozeßrecht vorgeladen — und das zu Recht, weil das Verfahren ja noch zur Geltungsdauer des alten Kodex begonnen habe.

Bleibt Cossiga bei seiner Weigerung, wird das italienische Verfassungsgericht entscheiden müssen. Einen leichten Stand werden der Staatschef und seine Gorillas in der Regierung da wohl nicht haben: Bisher haben sich noch alle von Cassan durchgeführten Verfahren vor den oberen Instanzen als wasserdicht erwiesen.