: Alles hat Platz zu machen
Zur städtebaulichen Situation in Berlin ein Jahr nach der Maueröffnung · Die sozialen, ökologischen und historisch-kulturellen Belange dürfen dem Boom nicht geopfert werden ■ Von Wulf Eichstädt
Berlin befindet sich seit 1989 — dem Beginn der Ausreise- und Übersiedlerwelle — in einem Umbruch, der durch die rasche Vereinigung der beiden Stadthälften stetig an Geschwindigkeit und Intensität zugenommen hat. Waren es nach dem 9.November 1989 zunächst völlig neue Käuferströme und Verkehrsbelastungen, die das Bild beherrschten, werden allmählich die Auswirkungen der Arbeitsplatzverluste in der ehemaligen DDR immer spürbarer.
Gerade der ökonomische Umbruch kann mit den Berlin zur Verfügung stehenden Mitteln der Landes- und Kommunalpolitik nicht geplant, sondern bestenfalls ausgleichend beeinflußt werden. Es ist darum nur verständlich, daß die Landesregierung in vielen Richtungen um bundesstaatliches Engagement wirbt, um so das Steuerungspotential der öffentlichen Hand insgesamt zu erhöhen.
Mit den folgenden Thesen soll versucht werden, die Erwartungen und Ängste, die gegenwärtig in der Stadt vorherrschend sind, nachzuzeichnen, um anschließend die Frage zu stellen, welche Anforderungen sich hieraus für eine vorausschauende Städtebaupolitik, die sich der sichtbaren Herausforderung stellt, ableiten lassen.
Wilde Spekulationen
These 1: Der gesellschaftliche und räumliche Umbruch in und um Berlin wird zur Zeit begleitet von wilden Spekulationen und Projektionen, an denen sehr verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligt sind und in denen mit aufsehenerregender Geschwindigkeit und faszinierender Unbedenklichkeit bestehende Wert-, Zeit- und Größenmaßstäbe verdreht und geändert werden — ein Umwertungsprozeß, der bereits heute negativ in die Lebensverhältnisse vieler Bürger hineinwirkt.
Es lohnt, den Behauptungen im einzelnen nachzugehen: Spekulation ist bis auf weiteres die Erwartung, Berlin würde bereits mittelfristig zu einer Fünf- oder Zehn-Millionen- Stadt anwachsen. Bisher sind es 3,5 Millionen Einwohner. Eine Projektion ist auch die Behauptung, es müßten kurzfristig 100.000, 200.000 oder 300.000 Wohnungen neu gebaut werden. Bisher sind in Berlin- West 8.000 Wohnungen pro Jahr finanzierbar, und der ökonomische Unterbau der östlichen Wohnungsproduktion ist zusammengebrochen. Spekulativ ist auch die vorgebliche Bedarfsrechnung, Berlin müßte in den nächsten zehn Jahren fünf bis zehn Millionen Quadratmeter Brutto-Geschoßfläche für Büro- und Dienstleistungsbenutzung bauen lassen; bisher sind es 50.000 Quadratmeter, die pro Jahr neu geschaffen werden. Die Gegenüberstellung ließe sich kurzfristig fortsetzen.
An den Boom-Projektionen sind in Berlin nicht nur Immobilienkaufleute, Vermieter und Grundstücksbesitzer beteiligt, sondern auch ernstzunehmende Wissenschaftler, viele Architekten und Stadtplaner, Politiker, Unternehmer, Bankdirektoren, Wirtschaftsverbände, Journalisten und andere, bis hin zu den kleinen Schlaumeiern, die jetzt bereits Wohnungen horten oder versuchen, mit Untervermietungen Geschäfte zu machen.
Faszinierend und angsterregend ist die Dimension der Umwertungen und Neubewertungen. Völlig verdreht sind die vornehmlich städtebaulichen Größenmaßstäbe, die jetzt in der Stadt gehandelt werden. Natürlich muß es neue Großsiedlungen geben. Natürlich ist das Hochhaus die einzige Antwort auf die nicht zu leugnende Herausforderung. Überhaupt muß dichter gebaut werden, man muß sich an größere Entfernungen gewöhnen und so weiter. Aber es sind eben nicht nur neue Größenmaßstäbe, sondern auch neue Zeitmaßstäbe, die jedem abverlangt werden in bezug auf die Anpassungszeit der gebauten Stadt, die Verfahren der Planung und behördlichen Genehmigung, die Zeit, die für Qualifikationsprozesse zur Verfügung steht, und natürlich die Zeit, in der wir das alles verarbeiten — es muß alles schneller gehen. Unüberhörbar sind auch die Neuformulierungsversuche für bestehende Wertmaßstäbe: Soziale Lebensumstände sollen nur noch dort geschützt werden, wo sie den Boom nicht behindern. Das gleiche gilt für ökologische Ressourcen, den historisch-kulturellen Kontext der Stadt und vieles andere. Alles hat Platz zu machen!
Straße frei!
Der ideologische Hebel, mit dem dieses „Straße frei!“ umgesetzt werden soll, ist altbekannt. Es wird behauptet, das Soziale, das Ökologische, das Historisch-Kulturelle ist nur mit der Energie des neuen ökonomischen Potentials lebensfähig. Wer den neuen ökonomischen Fortschritt behindert, schadet letztendlich langfristig auch der Sozial- und Umweltpolitik.
Letzte Behauptung der These war, daß der begonnene Umwertungsprozeß bereits heute negativ in die Lebensverhältnisse vieler Bürger hineinwirkt. Die Behauptung wird nachvollziehbar, wenn man sich erinnert, daß die neue Subordinationsforderung die Logik des Einigungsvertrages ist, die Logik der Einführung der Marktwirtschaft und der Umformung des öffentlichen Sektors in der ehemaligen DDR. Das heißt, die beschriebene Umwertung ist in allen Betriebsschließungen und Entlassungen wirksam — dem negativen Großtrend der gegenwärtigen Phase. Bescheidenere Beispiele aus dem Leben der Westberliner sind: die plötzlich mit wilden Spekulationen konfrontierte Wohnungsnachfrage, die explosionsartig gestiegenen Gewerbemieten und die dadurch blockierte Nachfrage von Gewerbetreibenden aller Art. Ein wichtiges Beispiel sind auch die erhöhten Zumutbarkeitsschwellen für Baubetroffene. Trotz verstopfter Straßen werden wieder höchste Grundstücksausnutzungen in der Innenstadt genehmigt. Auf dem Weg der Befreiung, natürlich! In Velten vor Berlin wird man demnächst 60 Hektar Forstgelände für einen Gewerbepark roden, weil die Altlastsanierung der benachbarten aufgelassenen Industriefläche zu teuer ist und nicht kurzfristig realisiert werden kann. Das sind die neuen Maßstäbe, deren Auswirkungen spürbar zu werden beginnen.
Die Berliner Stadtpolitik, nicht allein der Senat, ist von der Totalität des gegenwärtigen Umbruchs überfordert. Sie wäre dies auch, wenn in beiden Teilen der Stadt leistungsfähige Arbeitsstrukturen und eingespielte Verfahren bestehen würden. Dies ist aber nicht der Fall, vielmehr befinden sich die behördlichen Arbeitsprozesse selbst im Umbruch, und viele Grundlagen administrativen Handelns sind instabil und unbestimmt. Diesen Hintergrund muß man im Blick behalten, wenn man sich mit dem Handlungsspielraum der Stadtpolitik auseinandersetzt.
Think big
These 2: Die Berliner Stadtpolitiker wissen, daß die komplizierten Anpassungsprozesse, die Stadt und Gesellschaft durchmachen müssen, im Kern ökonomischer Natur sind und nur mit Hilfe von unternehmerischem Engagement von innen und außen gelöst werden können. Als globales Konzept versuchen sie darum, Berlin zu einer internationalen Dienstleistungsmetropole auszubauen, um damit die Substanzverluste im industriellen und öffentlichen Sektor des östlichen Teils der Stadt aufzufangen. Diese Perspektive wird gegenwärtig umgesetzt durch symbolische Zeichensetzungen mit von außen kommenden Großinvestoren sowie durch die ebenfalls symbolisch geprägten Großprojekte „Regierungssitz“ und „Olympia 2000“.
Auf einen Nenner gebracht, könnte man all das als den Versuch bezeichnen, einer ausgeprägt kleinmütigen Zeit das amerikanische „Think big!“ entgegenzustellen.
Die exklusiv gehandelten Rahmendaten des ersehnten Stadtbooms wurden eingangs bereits genannt. Man rechnet mit mindestens 50.000 neuen Einwohnern pro Jahr, 200.000 bis 400.000 neuen Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor in den nächsten zehn Jahren — ein Zuwachs, für den mindestens acht Millionen Quadratmeter Bürofläche neu gebaut werden müßten, was als Größenordnung 80.000 neuen Wohnungen entspricht. Alles das wird ermittelt über Analogieschlüsse, die aus der expansiven Vergangenheit Münchens und Frankfurts abgeleitet werden.
Tatsächlich — so hört man immer wieder — wird die Stadt überrannt von anlagebereiten Investoren, die aus allen Winkeln der Erde zusammenströmen, um den neuen „Markt Berlin“ zu entdecken. Auch wenn keiner den zuverlässigen Beitrag dieser Prospektoren mit Zahlen zu belegen wagt, gibt es erste Zeichen:
— Mercedes-Benz, der erste Symbolträger, soll eine viertel Million Quadratmeter Bürofläche am Potsdamer Platz errichten, immerhin ein Komplex von der vierfachen Größe des Frankfurter Messeturms;
— Ein schwedisches Konsortium, das auf dem bisherigen Busbahnhof gegenüber dem Messegelände landen soll, will es Mercedes mit einer Bürofläche von einer viertel Million Quadratmetern gleichtun;
— Dritter im Bunde ist eine Berliner Investorengruppe, die mit dem geborgten Namen des World Trade Centers aus New York zwischen Zoo und Tiergarten auf einem bisherigen Rummelgelände bauen will. 100.000 Quadratmeter Bürofläche sollen es ungefähr werden;
— Folgen wird später möglicherweise als viertes Großprojekt die Überbauung der Gleisanlagen im sogenannten Halensee-Graben am unteren Kurfürstendamm, ein Projekt, das mit der Zustimmung der im Umbruch befindlichen Reichsbahn/Bundesbahn steht und fällt (circa 150.000 Quadratmeter Bürofläche).
Rechnet man zusammen, was jetzt durch die Planerdiskussionen geistert, kommt man auf Büroflächen von einer dreiviertel Millionen Quadratmeter, die von ihrem gegenwärtigen blassen Ideenstadium bis zur Realisierung mindestens vier Jahre benötigen. Eine lange Zeit.
Die Risiken des Größenwahns
These 3: Das staatspolitische Konzept, Ausbau der Dienstleistungsmetropole Berlin mit internationalen Großinvestoren, ist bisher einseitig auf äußere Beiträge hin ausgerichtet und darum voller Risiken. In der stadtpolitischen Diskussion ist bisher wenig von einem Konzept sichtbar, das versucht, die inneren, bereits in der Stadt vorhandenen Energien zu mobilisieren und tragfähig zu machen.
Die Frage, wie verläßlich die sogenannten Investoren und die sich anbietenden Developer sind, ist zur Zeit die spannendste der Berliner Stadtplanungsdiskussion überhaupt. Inzwischen hat sich herumgesprochen, daß die zur Zeit auftretenden Bauinteressen nicht identisch sind mit großen Firmen, die hier Betriebe oder Zweigstellen eröffnen wollen, sondern daß bisher allenfalls eine Vorhut angekommen ist: Gesellschaften, die den Grundstücksmarkt durchbuchstabieren, sich Filet- und Erwartungsgrundstücke sichern möchten und die vielleicht auch morgen oder später einen Bürokomplex als Mietsache errichten, wenn die entsprechende Nachfrage vorhanden ist.
Selbst Mercedes-Benz hat im Sommer eingestanden, daß nur ein kleiner Teil der erwünschten Büroflächen für eigene Nutzungen gedacht ist und daß der Rest bis auf weiteres ein einfaches Immobiliengeschäft bleiben soll. Entsprechend schlapp laufen seit Monaten auch die zuvor so mit Eile eingeklagten Planungsvorbereitungen. Eigentlich steht der Zug.
Die in Fachkreisen inzwischen immer häufiger diskutierten Risiken der bisher vorbereiteten Großprojekte sind ganz allgemein:
— die Ablösung des Boden- und Baugeschäfts von der konkreten Nutzung. Berlin hat in der Vergangenheit bittere Erfahrungen mit Projekten wie dem Kreisel oder dem Kurfürstendamm-Karree gemacht. Entwickelt sich die Nachfrage nämlich nicht so, wie im ersten Rausch angenommen, dann sind diese Projekte mit hohen Erstellungskosten und über dem Durchschnitt liegenden Mietkosten nicht oder nur mit Verlusten vermietbar; ein Vorgang, bei dem zum Schluß immer die öffentliche Hand um Stützung gebeten wird.
— Dieses Risiko wird zugespitzt durch kostentreibende Sonderbedingungen, die bei der Mehrzahl dieser Projekte auftreten. Bei Mercedes- Benz sind es die absehbare Verknüpfung mit unterirdischen Bahnanlagen sowie ein kostspieliges Tiefgaragensystem bei schlechtem Baugrund, was die Kosten (Mieten) in die Höhe treiben wird. Beim Autobusbahnhof sind es die komplizierte Nutzungsverlagerung, der Abriß eines gutfunktionierenden Hotels sowie ein kompletter Straßenumbau. Beim Halensee-Graben ist es der gänzlich neu zu schaffende Baugrund, der zu einer Vielzahl von Überraschungen und im Ergebnis zu weit überdurchschnittlichen Kosten führen wird. Setzt man die bisher veröffentlichten Vorkosten für den sogenannten „Bahndeckel“ von 0,35 Milliarden DM in Beziehung zu den realisierbaren Bauflächen, so ergibt sich je nach Dichte ein stolzer Preis für den neuen Boden zwischen drei- und fünftausend DM pro Quadratmeter.
— Als dritter Risikobereich wird es bei allen Großprojekten zu einem entnervenden Streit um öffentliche Ergänzungs- und Ersatzleistungen kommen. Wenn die Mercedes-Türme wegen benachbarter Bahntunnel teurer gegründet werden müssen, wird man dies natürlich der öffentlichen Hand in Rechnung stellen. Gleiches wird bei dem Busbahnhof, dem Straßenumbau und der Erschließung des Halensee-Deckels geschehen. Alle Projekte sind groß genug, um mit der Drohung, alles scheitern zu lassen, die Stadt in diesem Kostenstreit über Jahre erpreßbar zu machen.
— Ein weiterer Risiko-Bereich, der nicht übersehen werden darf, sind schließlich konterkarierende Ereignisse selbst bei positivem Wirtschaftsverlauf. Wenn beispielsweise die geschilderten Dienstleistungszentren allein wegen ihrer Erstellungskosten mit Mieten zwischen 40 und 60 DM pro Quadratmeter Bürofläche rechnen müssen und gleichzeitig andere Investoren in der Region an den Autobahnzubringern Dienstleistungsparks mit Mieten von 30 DM anbieten, dann geraten unsere „Think-big-Symbole“ über Jahre in Schwierigkeiten.
Ein Bereich, in dem die Investorenkonkurrenz besonders stark ausgeprägt und kontraproduktiv ist, sind die Verbrauchermärkte und Kaufzentren auf der „grünen Wiese“. Wenn dort zum Beispiel tatsächlich nur einzene der geplanten 50-Hektar-Anlagen realisiert werden sollten, dann reicht dies aus, um gleich einem Dutzend kleinerer Vorhaben und jedem mittelständischen Einzelhandelsprojekt das Wasser abzugraben.
Destabilisierende Prozesse
These 4: Eine nur auf äußere Beiträge und Großprojekte setzende Stadtpolitik kann nicht ausschließen, daß durch falsche Ressourcenbindung und chaotische Systemreaktionen und Systemblockierungen den vorhandenen destabilisierenden Prozessen nicht ausreichend Einhalt geboten wird, sondern daß die bereits heute sichtbaren Strukturprobleme weiterbestehen bleiben.
Jede stadtpolitische Initiative muß sich daran messen lassen, in welcher Unmittelbarkeit und in welchem Umfang sie die aus den Fugen geratenene Erwerbsgrundlagen und Lebenschancen in der Stadt konsolidiert. Der Beitrag der hier diskutierten Großprojekte zur Lösung dieser Aufgabe ist höchst unsicher.
Es ist nicht auszuschließen, daß dadurch bedeutsame städtische Boden- und Finanzressourcen in falscher Weise gebunden werden. Diese Gefahr ist um so größer, je hektischer Festlegungen geschehen und Zusagen im „planlosen Raum“ gemacht werden. Wenn zum Beispiel nach nur grober Prüfung bedeutsame Standorte am S-Bahn- Nordring für olympische Projekte reserviert werden, so kann es sein, daß gerade diese Standorte, beispielsweise das Ostberliner Schlachthofgelände, morgen einer gezielten Gewerbeförderungspolitik in Ost-Berlin fehlen. Eine ähnliche nachteilige Bindung von städtischen Ressourcen findet statt, wenn mit hohen Kosten größere Dienstleistungsstandorte am inneren Ring der Stadt ausgebaut und entwickelt werden und dabei sehr viel günstigere Dezentralisierungskonzepte — zum Beispiel in den Mittelzentren Spandau und Köpenick — ungeprüft bleiben.
Bei allem, was zur Zeit stadtpolitisch unternommen wird, darf nicht vergessen werden, daß das labile System der neuen Stadt mit den zwei Gesellschaften zu unberechenbaren und chaotischen Reaktionen neigt.
Eine chaotische Reaktion findet zur Zeit ganz praktisch auf dem Gesamtberliner Grundstücksmarkt statt, wo sich die Preise für alte Miethäuser in wenigen Monaten verdoppelt haben, in Erwartung des großen Geschäfts, das sich mit Wohnimmobilien jeder Art machen läßt. Eine ähnliche kontraproduktive Reaktion vollzieht sich bei den Baupreisen, die statistisch in Jahresfrist zwar „nur“ um zehn Prozent gestiegen sind, bei Einzelausschreibungen jedoch häufig das Doppelte des bisher Üblichen erreichen. Es ist nicht auszuschließen, daß der Ostteil der Stadt noch einmal mit der altbekannten Abrißspekulation konfrontiert wird, weil auch dort in Zukunft Neubauten lukrativer sein werden als mühselige Erneuerungsvorhaben.
Chaotisierend wirken schließlich auch die nach wie vor nicht kontrollierten Systemblockierungen, die zum einen von den unklaren Verfügungsrechten über Grund und Boden, zum anderen von der sich immer mehr ausbreitenden Institutionenkonkurrenz ausgehen — zwischen Bund und Stadt, zwischen Umland und Stadt, zwischen Osthälfte und Westhälfte, zwischen Zentrale und Bezirken und schließlich auch zwischen den einzelnen Ressorts. Diese verbissenen Kleinkriege haben es bisher erfolgreich geschafft, daß die zusammenwachsende Stadt bisher wenig gefunden hat, was man als gesicherte Grundlinie der Stadtentwicklung bezeichnen könnte.
Die Frage ist darum offensichtlich nur, weiviel Chaos und wieviel Zynismus wir uns zumuten bzw. wieviel wir bereit sind auszuhalten?
Antworten auf die Herausforderung
Ganz offensichtlich bieten die symbolischen Großprojekte keine automatische Lösung der inzwischen offensichtlich gewordenen Strukturprobleme der Stadt, sondern es sind ebenso viele Initiativen der lokalen Politik erforderlich, die an den vitalen Interessen der Bevölkerung ansetzen und diese schützen.
Aus städtebaulicher Sicht ergeben sich folgende notwendigen Antworten auf die unbestreitbare Herausforderung:
1. Die Stadt muß Sicherheit schaffen mit Hilfe von Planung. Der spekulativen Entwicklungseuphorie müssen nüchterne Perspektiven gegenübergestellt werden. Im Streit zwischen Langfristambitionen und kurzfristigen Aufgaben muß klargemacht werden, wo die Prioritäten im Interesse der Bürger liegen. Dies erfordert auch eindeutige Aussagen über Entwicklungsräume, um die sich die Stadt mit besonderem Engagement bemühen will.
2. Die Stadt muß neue Sicherheiten schaffen durch strikte Spekulationsbehinderung, Preiskontrollen und Preisbegrenzungen.
3. Die Stadt muß schließlich der Bodenspekulation Grenzen setzen, indem sie das Geschäft mit dem neuen Bauland in die eigene Hand nimmt. Die drei großen Entwicklungsreserven der westlichen Stadthälfte sind Bahn- und Hafenareale, Kasernen und sonstige alliierte Flächen sowie kleinere Teile des städtischen Kleingartenbestands. Alles dies sind bis heute Räume mit öffentlichen Verfügungsrechten. Es gibt gar keinen Grund, warum eine planmäßige Neuordnung auf diesen Reserveflächen nicht ein Geschäft sein sollte, bei dem ausschließlich die Stadt, nicht ein externer Developer, die Regie führt.
4. Um die genannten Aufgaben erfolgreich lösen zu können, müssen verläßliche Kooperationsbeziehungen mit dem Umland und dem neuen Land Brandenburg hergestellt werden. Dazu gehören nicht nur die obligaten Zweck- und Planungsverbände, sondern als erstes ein gegenseitiges Fairneß-Abkommen, das jede aggressive Anziehungs- und Verdrängungskonkurrenz ausschließt, und als Zweites ein gemeinsamer Bodenordnungs- und Bodenbevorratungsfonds, mit dem die Siedlungsentwicklung diesseits und jenseits der Stadtgrenze im öffentlichen Interesse gesteuert wird.
5. Ebenso wichtig sind neue Grundlagen für die Kooperation zwischen städtischer Zentralverwaltung und lokaler Politik. Bisher ist es für einen Bezirk attraktiver, die neuen Entwicklungsprozesse der Stadt an seinem Hoheitsgebiet vorbeizulenken. Eine sinnvolle Stadtentwicklungspolitik ist auf diese Weise nicht zu machen. Erst wenn ein neues materielles Interesse für die Entwicklungsbeteiligung entsteht, kann das Gegenstromprinzip zwischen Zentrale und dezentralen Institutionen wieder funktionieren.
Es gibt eine Reihe von brauchbaren Voraussetzungen für eine selbstbewußte Antwort auf die große Herausforderung, man muß sie nur, wenn das Imponiergehabe der Wahlkampfzeit vorbei ist, auch zu nutzen wissen.
Wulf Eichstädt lebt als Architekt und Stadtplaner in Berlin
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