Die Stiefel marschieren immer noch — im Kopf

Darmstädter Uraufführung von Gabriel Dagans Stück über Auschwitz-Opfer „Die Verabredung“  ■ Von Jürgen Berger

Karl Schulz spielt überzeugend. Aus dem Juden, der Auschwitz überlebte, ist ein SS- Mann geworden, ein entfesselter Kleinbürger, Herr über Leben und Tod — schneidend kalt, jovial, abrupt brüllend. Karl Schulz ist kein SS-Mann, er spielt einen, obwohl er selbst ein Auschwitz-Opfer ist. Das KZ liegt Jahrzehnte zurück, aber immer noch peinigt es die Überlebenden. Karl Schulz vielleicht am wenigsten — er wurde Schauspieler und macht heute den Eindruck, als könne er souveräner mit seiner Vergangenheit umgehen als andere.

Souveräner beispielsweise als Eddie Runzig, Peter und Martha Stein. Die vier treffen sich in einem Hotel in Amsterdam. Zwar haben sie sich zum Teil seit Auschwitz nicht mehr gesehen, aber es geht nicht um ihr Wiedersehen: Es geht um Peter Steins Onkel, der auch heute noch sagt, er verstehe nicht, daß sich Millionen Juden wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen. Der Onkel hatte sich rechtzeitig nach Amerika abgesetzt. Die anderen Familienmitglieder peinigt es, daß es in den eigenen Reihen solches Unverständnis gibt. Der Onkel folgt einer Einladung Peter Steins in das Amsterdamer Hotelzimmer, angeblich zum Essen, stattdessen wird ein brutales Spiel inszeniert.

Karl Schulz wird zum SS-Mann und Peiniger des Onkels. Er erhält dafür am Ende, wenn die Spieler sich zu erkennen geben, eine Ohrfeige von diesem. Seit Auschwitz habe das niemand mehr gewagt, preßt Karl heraus, am ganzen Leib zitternd. Erst jetzt fällt er wieder aus seiner Rolle. Zuvor hatte Matthias Kniesbeck dem Darsteller des SS-Mannes solch eine Wucht gegeben, daß auf der Bühne wirklich ein Nazi zu spüren ist, der mit einer dämonischen Lust Gefallen daran findet, den Onkel zu quälen.

Es ist ein mutiges Stück, das Gabriel Dagan geschrieben hat und das jetzt in Darmstadt ohne Scheu vor den schmerzhaften Stellen im Text uraufgeführt wurde. Ein Stück, das nicht die Täter von damals ins Visier nimmt, sondern die Deformationen, die Auschwitz bei den Überlebenden hinterließ. Der 1922 geborene Israeli Gabriel Dagan ist selbst ein Überlebender der Konzentrationslager von Auschwitz und Theresienstadt — heute ist er als Bühnen- und Filmautor in Tel Aviv zuhause. Sein Stück „Die Verabredung“ wurde bisher nur als Hörspiel im israelischen Rundfunk gespielt.

Warum das Stück fast zwanzig Jahre nicht zu sehen war, hat vielleicht auch mit der Figur der Martha Stein zu tun: Sie ist verstört und kann kaum mit der Erinnerung an Auschwitz leben. Während des harten Spiels im Hotelzimmer hat sie eine gefolterte Jüdin darzustellen. Aber sie hält es nicht aus und bricht zusammen mit Anzeichen der Hysterie. Anke Schubert spielt sie so, daß die Beklemmung im Zuschauerraum fast unerträglich wird.

Ihr Bruder, Peter Stein, verarbeitet Auschwitz anders. Er hat etwas Zynisches, und wenn er das Spiel für seinen Onkel inszeniert, geht er routiniert und geschäftsmäßig vor. Rache? Ja, es geht auch um Rache, denn seine ganze Familie kam im KZ um, und der Onkel demütigt die Opfer noch heute mit seiner Selbstgerechtigkeit. Deswegen läßt Peter Stein Auschwitz wieder auferstehen.

Und der Onkel steht stramm, entkleidet sich und zieht den gestreiften KZ- Anzug an. Er ist jetzt selbst an der Stelle der Unglücklichen, die seiner Ansicht nach willenlos in den eigenen Tod gingen, und auch er duckt sich vor dem SS-Mann. Noch weiß er nicht, daß er Teil einer Inszenierung ist. Wenn er es wissen wird, versteht er das Ganze nur als üblen Streich. Warum der Mensch vor roher Gewalt zurückschreckt, hätte er erfahren können, und daß es kein Zurück gibt, ist man das erste Mal vor der körperlichen Wucht und der schneidenden Stimme des SS-Mannes zurückgewichen. Am Ende sind er und der Neffe Feinde.

Gabriel Dagans Stück wurde in Darmstadt in knapp zwei Stunden durchgespielt, ohne Pause, obwohl es in zwei Teile auseinanderzufallen droht. Zuerst zeigt es die Vorbereitungen zur Inszenierung im Hotelzimmer und dann das harte Spiel. Der erste Teil wirkt wie eine zu lang geratene Exposition — eine Exposition, die zwar zum Verständnis des Spiels notwendig ist, die jedoch gegenüber der ungeheuren Wucht des zweiten Teils wie eine Boulevard- Eröffnung wirkt.

Dagan wollte diesen Kontrast und hatte mit Klaus Weises gegensteuernder Inszenierung Glück. Daß der Autor zu der geschlossenen Gesellschaft im Hotelzimmer noch einen holländischen Journalisten erfand, will nicht ganz einleuchten. Er schweigt und greift als einziger Unbeteiligter auch dann nicht ein, wenn aus dem Spiel unversehens Ernst wird. Daß Karl Schulz seine schauspielerischen Fähigkeiten zuerst einmal am Zimmerkellner testen kann, ist dagegen eine gelungene Variante und in Darmstadt eine der intensivsten Szenen. Der Kellner steht geduckt vor dem SS-Mann und weiß nicht mehr, ob es eine Erscheinung ist, was er da sieht, oder ob die Uhr um Jahrzehnte zurückgedreht wurde.

„Die Verabredung“ von Gabriel Dagan. Regie: Klaus Weise. Bühne: Manfred Blößer. Mit Anke Schubert, Matthias Kniesbeck, Winfried Küppers, Klaus Ziemann, Wolf Flüs, Stella Avni, Dinu Ianculescu, Art Veeder. Staatstheater Darmstadt. Nächste Aufführung: 24. 11.