Die erstaunliche Karriere der KSZE

■ Der Helsinki-Prozeß hat die Revolutionen in Osteuropa unterstützt und gleichzeitig Bauelemente für Europa geliefert

Verträge haben in „unserem rauhen und tragischen Jahrhundert“ (Gorbatschow) selten Konflikte gelöst. Der Vertrag von Versailles hat dies ebensowenig vermocht wie das Potsdamer Abkommen, das trotz aller guten Absichten nur die Spaltung Deutschlands, des Kontinents und der Welt gebracht hat. Gemessen am Schicksal dieser Verträge hat die KSZE eine erstaunliche Karriere hinter sich. Sie hat die demokratischen Revolutionen in Osteuropa gefördert und damit den Status quo der Blockkonfrontation zum Einsturz gebracht. Gleichzeitig hat sie die Bildungselemente für eine neue europäische Ordnung bereitgestellt. Wie ist dieser doppelte Erfolg erklärbar?

Die KSZE war ursprünglich ein Projekt der sowjetischen Diplomatie und sollte vor allem dazu dienen, die territorialen wie politischen „Ergebnisse“ der Nachkriegszeit völkerrechtlich festzuschreiben. Nicht umsonst bildete die Niederschlagung der Reformbewegung in der CSSR 1968 die Voraussetzung des ganzen Prozesses. „Sicherheit und Zusammenarbeit“ sollte es nur auf der Basis garantierter Blockdisziplin geben. Die Diplomaten Breschnews interpretierten daher die Forderung der Westmächte, die Menschenrechte ins Vertragswerk aufzunehmen und den „Körben“ der Sicherheit und ökonomischen Kooperation einen dritten, den der „menschlichen Begegnungen“ hinzuzufügen, auf die denkbar restriktivste Weise. Sie hofften, mit dem Verbot von Einmischungen in die „inneren Angelegenheiten“ jedes Vertragsstaates die Unterstützung von „Dissidenten“ durch den Westen abwehren zu können.

Von den demokratischen Gruppierungen in Osteuropa, die den Menschenrechtskatalog der KSZE (und die internationalen Menschenrechtspakte) für bare Münze nahmen, war die Charta 77 die bedeutendste. Sie war entschlossen, strikt im Rahmen der Legalität zu handeln, forderte dasselbe aber auch von den realsozialistischen Machthabern. Der Widerspruch zwischen der formalen Anerkennung der Menschenrechte durch den Parteistaat und seine gleichzeitige strikte Weigerung, sie in der politischen und juristischen Alltagspraxis zu beachten, war der Ausgangspunkt für die gesamte Arbeit der Chartisten. Dieser Arbeit wurde von Anfang an der Vorwurf gemacht, politisch perspektivlos zu sein und die moralische Kluft zwischen dem Häuflein der Aufrechten und einer in Passivität erstarrten Gesellschaft noch zu vergrößern. Liest man die Charta-Dokumente jener Jahre, so wird man jedoch überrascht sein, daß von Untersuchungen über die ökologische Katastrophe bis zur Schilderung der Wüstenei bei den Geisteswissenschaften kaum ein Areal gesellschaftlicher Gebrechen ausgelassen wurde. Dies entsprach einer umfassenden Vision der Menschenrechte, wie sie in den Helsinki-Vereinbarungen niedergelegt worden sind. Und noch mehr: Indem die Bestimmungen des Helsinki-Vertrages über den freien Reiseverkehr, die ungehinderte Zirkulation der Ideen und Überzeugungen zur Hilfe gerufen wurden, entwarf die Charta 77 das Bild einer postkommunistischen europäischen Zivilisation jenseits der „sozialistischen Staatengemeinschaft“. Die „Antipolitik“ aus individueller Verantwortung enthüllte einen umfassenden politischen Anspruch.

Die Strategie der Chartisten, der sich zunehmend demokratische Gruppierungen in anderen osteuro- päischen Ländern anschlossen, hatte im Helsinki-Prozeß selbst einen wirkungsvollen Resonanzboden: die Konstruktion der Folgekonferenzen. Auf jeder dieser Konferenzen stand die Einhaltung der KSZE-Beschlüsse zur Debatte. Da die Sowjetunion selbst während der Eiszeit der frühen 80er Jahre ein Interesse an ökonomischen Kooperationsbeziehungen hatte, mußte sie die laufende Erörterung der Menschenrechtsfragen in Kauf nehmen. Nicht zuletzt dieses Schutzschild hat dazu beigetragen, daß die demokratische Opposition die kritische Phase im Gefolge der sowjetischen Afghanistan-Besetzung überstand.

Der KSZE-Prozeß tat seine Wirkung aber nicht nur bei den lange Zeit marginalisierten Menschenrechtsgruppen, sondern auch bei den ostmitteleuropäischen Machteliten, die sich bei vollständiger Loyalität gegenüber Breschnew vorsichtig Richtung Westen öffneten. Diese Politik hatte ebenfalls ein vitales Interesse an der Fortexistenz des KSZE-Prozesses: Die „Westorientierung“ erweiterte die Legitimationsgrundlage der Realsozialisten in den ihrer Gewalt unterworfenen Ländern, ohne die Interessen der Sowjetunion zu verletzen. Gierek in Polen und Kadar in Ungarn nahmen umfangreiche Westkredite auf, die nicht zuletzt für Westwarenimporte Verwendung fanden. Diesem ökonomisch folgenreichen „Flirt mit den Hausfrauen“ entsprach eine weitgehende Liberalisierung des Reiseverkehrs. Als Ende der 70er Jahre in beiden Ländern die ökonomische Krise mit elementarer Gewalt durchschlug, traf sie auf Bevölkerungen mit gestiegenen Erwartungen und Vergleichsmöglichkeiten. Erst diese Mischung, deren Explosivität wir seit Tocquevilles Schriften kennen, führte zur Gründung von Solidarność in Polen und damit zum ersten Sargnagel der kommunistischen Herrschaft in der Region. Denn trotz der Verhängung des Kriegsrechts war es der polnischen Regierung nicht möglich, die Verbindungen zum westlichen Europa zu kappen, die im Rahmen des Helsinki-Prozesses entstanden waren. Erst dieser Nährboden ermöglichte das Überleben der illegalen Solidarność bis in die Gorbatschow- Zeit.

Schon der „Prager Appell“ der Charta 77 von 1985 hatte gefordert, den KSZE-Prozeß gesellschaftlich zu untermauern und zu radikalisieren. Die Vision eines Europa „jenseits der Blöcke“, zu Zeiten der Verfolgung geboren und von der westlichen Realpolitik als utopistisch beiseite geschoben, wurde nach der demokratischen Revolution von 1989 zur Staatsdoktrin der neuen CSFR, strahlte aber auch auf die anderen Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ aus. Ein künftiges Europa, in das die europäische Sowjetunion bzw. ihre Nachfolgestaaten ausdrücklich einbezogen sind, wird über die KSZE eigene Institutionen der Kooperation, Streitschlichtung und Kontrolle hervorbringen, die Schritt für Schritt an die Stelle der Nato und des Warschauer Paktes treten sollen. Es ist diese Idee eines vereinten, friedlichen und demokratischen Europa, die die Vergangenheit des KSZE- Prozesses mit seiner möglichen Zukunft verklammert. Christian Semler