piwik no script img

Das sauberste TV der Welt

Fernsehen in Großbritannien: Von dreibeinigen Collies und Vogelfreunden  ■ Von Thomas Langhoff

„Ja, Vögeln macht mir Spaß“, sagte der Busfahrer freudig und laut in die Kamera. Der Reporter nimmt das Stichwort auf und fragt weiter, und was treiben sie so den lieben langen Tag, abgesehen vom Chauffieren? „Vögeln“. Am nächsten Tag stand es in allen Zeitungen: George Best, der mit 15 Jahren bei Manchester United als Superstar gefeiert wurde und der sich heute als Busfahrer verdingt, hatte kurz nach 19 Uhr in Tery Wogans Talkshow auf BBC1 laut und deutlich „Vögeln“ gesagt. Zweimal laut und deutlich, und das im englischen Fernsehen.

Das englische Fernsehen, das, wie jeder Engländer weiß, das beste der Welt ist, offeriert seinen Zuschauern vier Kanäle: BBC1 widmet sich der populären Unterhaltung, BBC2 bedient intellektuellere Bedürfnisse, ITV (Independent Television) füllt sein 24-Stunden-Programm mit Blockbusterserien und Regionalsendungen, und Channel 4 fühlt sich den Avantgarde- und Experimentalfilmern verbunden. Während die BBC- Kanäle sich ausschließlich über Gebühren finanzieren, ist ITV auf Werbeeinahmen angewiesen. Channel4 kassiert ebenso Werbegelder, wird aber zusätzlich von ITV unterstützt.

Ein rigider Moralkodex beherrscht alle vier Kanäle. Deshalb kann ITV auch kein Tuttifrutti à la RTL veranstalten — der Zensor steht davor. Er verbannt alle Sex- und Gewaltszenen vom Bildschirm und macht den englischen damit zum saubersten der Welt. Vögelliebhaber wie George Best kommen nicht auf ihre Kosten, dafür aber haben der englischen Countryside verbundene Hundefreunde ihren Spaß.

Ein Hund, sieben Schafe, ein Gatter. Der Hund jagt unbändig über die Weide und treibt die Schafe in Richtung Gatter. Drei Schafe brechen aus und wenden scharf. Der Hund entschließt sich zu einer Vollbremsung, rutscht über das Gras und schaut, endlich zum Stillstand gekommen, ratlos sein Herrchen an. Das entlädt ein volles Lungenvolumen Luft in seine Trillerpfeife, woraufhin sein Gesicht bläulich anläuft. Bei Ultramarin weiß der Hund, daß er wieder loswetzen muß. Das geht so weiter, bis alle Schafe schließlich im Gatter sind.

A Man and his Dog, der sonntägliche Vorabendhit, sah sich vor kurzem harscher Kritik ausgesetzt: Eine aufmerksame Zuschauerin wollte den patriarchatverherrlichenden Titel in „One Person and their Canine Partners“ geändert wissen. Ob der grammatikalischen Unstimmigkeit („One Person and their Canine Partners“) votierte ein anderer aufmerksamer Zuschauer aber für „One Person and his or her Dog“. Woraufhin sich endlich eine Frau als TV-Schäferin vorstellte — mit einem dreibeinigen Collie.

Die Fans von Manchester United wissen es sofort: „Deidre and Ken back together“, steht auf der Anzeigentafel im Old-Trafford-Stadion. Für einen Augenblick verliert das Spiel seine Bedeutung, die Fans atmen auf — Versöhnung in der Coronation Street.

Seit 1960 läuft auf ITV Coronation Street, das englische Vorbild für die Lindenstraße. Das Leben, wie es wirklich ist, entrollt sich zweimal wöchentlich in der für diese Art von Arbeiterklassen-Soap-Opera typischen Kammerspielästhetik: Akteur 1 geht in die Bildmitte und sagt seinen Text — Schnitt — Akteur 2 geht in die Bildmitte und sagt seinen Text — Schnitt — Akteur 1 ohrfeigt Akteur 2 — Schnitt — Kneipe/saufen bzw. Küche/flennen (je nach Geschlecht des geohrfeigten Akteurs). Liebe und Verrat, Betrug und Hinterlist, verliebtes Wimpernzucken und keusche Küsse beim Teigkneten — das ganze Leben in Großaufnahme und bei voller Beleuchtung.

Die auf ITV und Channel 4 übliche Unterbrecherwerbung läßt die Spannung nach der Ohrfeige noch steigen und forciert den Versöhnungsprozeß: Nach dem fellatio- verdächtigen Schokoriegelclip hilft „First Response“, die empfängnisfreundlichen Tage zu bestimmen.

Coronation Street und die Konkurrenzserien EastEnders und Neighbours (beide BBC1) rangieren mit jeweils 15 Millionen Zuschauern unschlagbar an der Spitze der TV- Charts — 15 Millionen Zuschauer, die sich mit Leib und Seele dem Schicksal ihrer Leidensgenossen widmen: „In der letzten Folge von Coronation Street haben die MacDonald-Zwillinge einen Erdhügel vor Dereks und Marcs Haus aufgeschüttet. Das hat mich ganz schön durcheinandergebracht. Wie haben es die beiden nur geschafft, einen solch großen Hügel mit einer solch perfekten Spitze aufzuhäufen, ohne Schubkarren- oder Fußspuren zu hinterlassen? Ich wette, daß da ein Bagger mitgeholfen hat!“

Es soll in Londons Abwasserkanälen Alligatoren geben. X hat sie gesehen, weiß der Mund in Großaufnahme zu berichten. Ob die auch Rohre hochkriechen können?

Um 23 Uhr 15 heult auf BBC2 ein Wolf den Mond an. Die Zeit für die Late Show ist gekommen. Sie ist das intellektuell-avantgardistische Prunkstück der BBC. Viermal in der Woche, von Montag bis Donnerstag (allerdings mit einigen Monaten Pause im Jahr — fast alle Serien und Magazine laufen nur in einer bestimmten Saison), nimmt sich das Kulturmagazin Zeit für alles, was nicht nur Kultur ist: Zeit für Roland Barthes, Zeit für semiotische Betrachtungen zur Turnschuhmode, Zeit für Bemerkungen zum Trabi- Design, Zeit für Black Power, Zeit für die urbane Legende vom Abwasserkrokodil.

Ausgestattet mit einem hohen Budget, kann sich die Late Show teure Extravaganzen leisten. Für den fast halbstündigen Beitrag über das Krokodil wurden die Geschichten in Kurzfilmen nachgestellt und die Interviewpartner — unter anderem selbsternannte Wissenschaftler wie „Verschwörungstheoretiker“ und „Freelance-Folkloristen“ in surreale Kulissen gesteckt. Ausstellungsbesprechungen werden als Kamerafahrt gedreht — wobei der Kritiker die Kamera vor sich hertreibt —, der Kameramann filmt die Interviewpartner aus einer Entfernung von nicht unter 20 Metern, und die Montage imitiert den Rhythmus des Soundtracks. Dieser ästhetische Hedonismus ist nie peinlich, selten langweilig und manchmal genial.

Jeremy Wallington hat seinen Kunden ein gutes Angebot zu machen: Drei britische Kriegsfregatten will er verkaufen. Die Verhandlungen für dieses illegale Geschäft führt er in einem Genfer Restaurant. Draußen vor dem Restaurant steht ein Wagen, von dessen Rückbank das Gespräch gefilmt wird. World in Action, produziert vom renommierten Granada-TV, sendet das Material wenig später auf ITV. Der Produzent heißt Jeremy Wallington.

Die unorthodoxen Recherchetechniken des Teams haben in diesem Sommer der britischen Justiz einen harten Schlag versetzt: In einem Interview gesteht ein ehemaliges IRA- Mitglied, Anfang der siebziger Jahre zwei Pubs in Birmingham in die Luft gejagt zu haben. Derweil sitzen sechs andere IRA-Aktivisten, die aufgrund fragwürdiger Indizien verurteilt wurden, seit 16 für Jahren für diese Tat in Haft. Granada-TV weigert sich, die Identität des Täters preiszugeben, der Fall aber muß nun neu verhandelt werden.

Interviews mit IRA-Mitgliedern — dazu gehören auch die demokratisch gewählten Sinn-Fein-Politiker — dürfen im brtitischen Rundfunk nicht ausgestrahlt werden. Seit dem Bannspruch hängt sich Sinn Fein ein großes Plakat vor das Rednerpult — „Censored“. Bei allen IRA-Interviews dreht das auberste Fernsehen der Welt den Ton ab — und der Kommentator erzählt, was zu erzählen ist.

Be young! Be fast! Be beautiful! Be modern! Ein Relaxman kostet 600 Dollar! Das Apollo is the place to go, necessarily! Die Kids hauen sich Crack rein! In der South Bronx gibt es Salamibrötchen! Eine Nacht im Ritz kostet ein Vermögen: Der Central Park is mega! Yeah.

Mit dem Rough Guide to the World Update (BBC2) kann es kein Warenhaus der Welt aufnehmen. Das Bunteste, das Teuerste, das Eleganteste, das Billigste, das Verkommenste — die Rough Guide-Händler Magenta de Vine und Sankha Guha führen alles. Als Reisemagazin getarnt, erlaubt sich die Sendung alles, was der gute Geschmack verbietet: ein paar Sätze über die Central-Park- Vergewaltigung — Schnitt — ein paar Sätze über den derzeitigen Hip- Designer — Schnitt — ein paar Sätze über die Obdachlosen — Schnitt. Yeah. Voyeurismus par excellence, garniert mit vielen bunten Bildern, vornehmlich aus der Froschperspektive! Verzerrt! gezoomt! Yeah.

Die Be-Fast-Generation rückt auf allen vier Kanälen zunehmend in den Vordergrund: Die Chart Show (ITV), The Word (C4), Top of the Pops (BBC1) und DEF II (BBC2) lockern die ansonsten recht sterile Atmosphäre des britischen Fernsehens mit Neneh Cherry und kreischenden Teenagern auf.

Viele Dokumentarfilme, viele Features aus der Welt der Wissenschaften, viel Sport (das heißt in England: Billard, Golf, Cricket), viel britischer Humor (als solcher an den regelmäßigen Einblendungen eines hysterisch lachenden Publikums zu erkennen), viele Popmagazine, wenige Quizsendungen à la Wetten, daß...?, eine Late Show, kein Sex: das sauberste Fernsehen der Welt. Channel4 verliert langsam seine innovative Kraft, mit der es 1982 gestartet ist, und profiliert sich vor allem durch die Übernahme amerikanischer Serien (The Waltons, die Bill Cosby Show und die Oprah Winfrey Show), ITV pendelt zwischen lockerer Unterhaltung (Coronation Street) und hochklassigem Journalismus (World in Action), und das BBC gibt nach und nach den Pathos seniler Seriösität auf.

Insgeheim warten sie alle auf ihn, die Freunde dreibeiniger Collies wie die Verehrer der Coronation Street, die Late Show-Intellektuellen wie die Rough Guide-Yuppies: Sie alle warten darauf, daß der Busfahrer aus Chelsea den saubersten Bildschirm der Welt ein wenig beschmutzt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen