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Kleiderwechsel

■ betr.: "What is left?" (Thesen zur Identitätsdebatte der Linken) von Ralf Fücks, taz vom 10.11.90

[...] Mir erscheinen Fücks Thesen nicht wie eine gründliche Selbstreinigung von falschen Denkweisen, sondern wie ein Kleiderwechsel. Das ist mir zu einfach.

Wieso ist der Sozialismus als gesellschaftliche Idee am Ende? Ist es nicht im Gegenteil so, daß zur Zeit unter Linken eine intensive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattfindet. Eine Neudefinition und Bewertung des Begriffs Sozialismus ist notwendig und prägt diese Diskussion. Wer diesen Diskussionsprozeß als Weg in die Sozialdemokratie bewertet, zeigt, wie wenig er noch inhaltlich bereit ist, darauf einzugehen.

Unbestritten ist inzwischen, daß die sogenannten realsozialistischen Länder mit den Grundideen sozalistischen Denkens wenig Gemeinsames haben. [...] So bitter die vorliegende Bilanz für Linke auch sein mag, vielleicht bedurfte es einfach der Erfahrung und des Niedergangs eines „frühsozialistischen Modells“. Damit trat auch eine gedankliche Befreiung ein.

[...] Wieso gibt es niemanden mehr, der eine sozialistische Utopie entwickeln kann. Die sozialistische Idee ist als Utopie entstanden und wird als Utopie weiterbestehen. Wer keine gesellschaftliche Utopie mehr grundsätzlich entwickelt, bindet sich letztendlich im Rahmen des real existierenden Kapitalimus ein. Er entwaffnet sich gegenüber der kapitalistischen Logik des Systems.

Für mich erscheint eher der von Ralf Fücks genannte Begriff einer „Evolution und Dialog als Zentralbegriff einer anderen Politik“ als Schritt in eine Sozialdemokratisierung zu zeigen. Sind Macht- und Klassengegensätze wirklich verschwunden? Natürlich ist der heutige Kapitalismus (zumindest in Westeuropa und einigen anderen Ländern) nicht mehr mit dem Frühkapitalismus zu vergleichen. Doch die ökonomischen Machtverhältnisse haben heute eine ganz andere globale Dimension erhalten. Die Menschheit als Ganzes ist heute bei weiterer Unterwerfung durch den Kapitalismus bedroht.

Die Ökologiefrage, der Feminismus und die Bürgerrechte sind nach wie vor nur gegen den Widerstand des kapitalistischen Machtsystems durchsetzbar. Das heißt nicht, reduzieren darauf. Eine Einengung linker Politik auf den Interessengegensatz von Lohnarbeit und Kapital ist sicherlich zu kurz gegriffen. Doch dies als Nebenproblem zu behandeln, zeigt meiner Meinung nach eine Ferne und Arroganz zur sozialen Frage. [...] Die großkapitalistischen Produktionsbedingungen werden weiterbestehen. Ein Konzentrationsprozeß verstärkt sich sogar noch. Ökologischer Umbau und Basisdemokratie muß letztendlich in den Betrieben und mit den dort Beschäftigten durchgesetzt werden.

Den Kapitalismus als Gesellschaftssystem infragezustellen, wird für die ausgebeuteten Länder der südlichen Weltkugel zunehmend zur Existenzfrage überhaupt werden.

Die Sozialdemokratie hat ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht, ist insgesamt Bestandteil geworden. Die Grünen stellen auch keine echte Opposition dar. Die Grundwidersprüche des Systems werden insgesamt verharmlost oder abgestritten. Daraus folgt für mich die Bedeutung einer neu zu entwickelnden linken Organisationssperspektive. Diese Rolle kann die PDS alleine auf keinen Fall übernehmen. Die Linke insgesamt ist gefragt. Trotzdem kann die PDS einen wichtigen Beitrag leisten. Für mich bleibt eine Kernfrage von zukünftig linker Politik: Welche Rolle spielt eine bisher nirgendwo richtig eingebunde gewerkschaftlich-betriebliche Linke? Werner Wilcke, Bremen

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