KSZE-Gipfel in Paris: Europa — zweigeteilt?
■ Mit der „Charta für ein neues Europa“ werden die Menschenrechtsforderungen der KSZE feierlich bekräftigt. Eine wird, seit der Warschauer Pakt in Auflösung ist und die Grenzen offen sind, dem Westen zum Problem: die Freizügigkeit. Die Staatschefs berieten geheim.
Mit der Verabschiedung einer „Charta für ein neues Europa“ endete gestern in Paris der KSZE-Gipfel. Die eigentlichen Themen des Gipfels, die in zahlreichen bi- und multilateralen Begegnungen der 34 Staats-und Regierungschefs sowie einer Sitzung hinter verschlossenen Türen erörtert wurden, waren die Golfkrise und der bevorstehende Ost-West-Flüchtlingsstrom in Europa.
Teil der Charta sind die Beschlüsse über die Einrichtung eines „ständigen KSZE-Sekretariats“ in Prag, eines „Konfliktverhütungszentrums“ in Wien sowie eines „Büros für freie Wahlen“ in Budapest. Diese Einrichtungen werden personell und finanziell jedoch nur äußerst dürftig ausgestattet und haben keine eigene Kompetenz. In den nächsten zwei Jahren werden sich ihre Aufgaben auf Serviceleistungen beschränken. Über zusätzliche Befugnisse dieser Einrichtungen sowie über eine darüber hinausgehende Institutionalisierung der KSZE soll frühestens auf dem nächsten Gipfel 1992 in Helsinki entschieden werden. Oberstes KSZE-Gremium ist die ab Juni 1991 (Berlin) jährlich stattfindende Außenministerkonferenz.
Die Regierungschefs Ungarns und der CSFR, Antall und Havel forderten zwar einerseits den Ausbau der KSZE zu einer kooperativen, gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur, begrüßten aber anderseits den Fortbestand der Nato als, neben der EG, einem wichtigem Element einer künftigen Ordnung. Aus Havels Umgebung verlautete, die CSFR erwäge den Antrag auf „assoziative Mitgliedschaft“ in der Nato. Antall äußerte die Hoffnung auf „Auflösung“ der militärischen Organisation des Warschauer Vertrages bis Ende 1991. Auch die Slowenen hatten der Regierung in Belgrad mit einer separaten Delegation gedroht, dann jedoch eine stärkere Vertretung in der jugoslawischen Delegation erhalten. CSFR-Delegationsteilnehmer zu taz: „Wir denken an ein Assoziierungsabkommen mit der Nato. Die Nato soll einer der Pfeiler des europäischen Sicherheitssystems bleiben.“ Der sowjetische Staatspräsident Gorbatschow sprach zurückhaltender von einem „Transformationsprozeß“ des östlichen Bündnisses und verlangte von der Nato entsprechende, „kühnere“ Schritte als bislang.
„Von freien Wahlen allein können wir nicht leben!“ Mit diesen Worten umschreib Antall die zum Teil dramatische wirtschaftliche und soziale Situation in Osteuropa. Der Ministerpräsident des Landes, das vor allem von Bonner Regierungspolitikern gerne dafür gelobt wird, mit der Grenzöffnung im letzten Jahr den entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Kalten-Kriegs-Teilung des Kontinents geleistet zu haben, warnte „vor dem Entstehen einer neuen Mauer zwischen armen Ost- und reichen Westeuropäern“. Gleichlautende Befürchtungen äußerten Vaclav Havel (CSFR), Borisav Jovic (Jugoslawien) und Tadeusz Mazowiecki (Polen) in ihren Reden. Die derzeit wieder auflebenden ethnischen und nationalen Konflikte könnten „schärfere Formen als in der Vergangenheit“ annehmen, befürchtet werde eine „Aufteilung in ein A- und ein B-Klassen-Europa“ (Mazowiecki).
Doch die Staats-und Regierungschefs aus dem Westen des Kontinents sowie aus Nordamerika hatten außer Worten der Besorgnis und dem Versprechen vo Abmilderung des drohenden Hungerwinters nichts an konkreten Programmen oder Konzeptionen zur Stabilisierung und langfristigen Verbesserung der Lage anzubieten. Von großzügiger und schneller Wirtschafts-und Kapitalhilfe war auf dem Gipfel nicht die Rede. Die tatsächliche Lage beschreibt eine vor wenigen Tagen vom Sekretariat der OECD in Paris veröffentlichte Studie. Danach ist die Vergabe von Krediten an osteuropäische Staaten in den ersten acht Monaten dieses Jahres „nahezu auf den Nullpunkt gesunken“. Die Anleihen auf dem Weltfinanzmarkt sind in diesem Zeitraum um 66 Prozent zurückgegangen.
Ausschließlich den Auswirkungen der Krise, von denen sich Westeuropa unmittelbar bedroht fühlt, und nicht — wie allseits erwartet — dem Golfkonflikt, widmeten die 34 Gipfelteilnehmer allerdings ihre Beratungen, die sie ohne ihre Delegationen hinter verschlossenen Türen führten. Fast eine Stunde lang erörterten sie den „drohenden Flüchtlingsstrom von Ost nach West“. Die nunmehr fast in ganz Europa bestehende Reisefreiheit, eine der seinerzeit von den westlichen Staaten durchgesetzten Hauptforderungen im Menschenrechtskorb der Helsiniki-Akte von 1975, wurde so zum Problem des ersten KSZE-Gipfels nach dem Fall des eisernen Vorhangs. Martens verwies in der Sitzung auf Expertenvoraussagen wonach — zumal nach der Abschaffung der Ausreise-Visapflicht für SowjetbürgerInnen am 1. Januar 1991 — mit jährlich zwischen drei und vier Millionen Flüchtlingen von Ost nach West zu rechnen sei. Ein enger Vertrauter Vaclav Havels äußerte gegenüber der taz ähnliche Einschätzungen. Die Regierungen in Prag und Budapest befürchteten „erhebliche Destabilisierungen“ ihrer Länder. Havel machte auf der Sitzung hinter verschlossenen Türen einen konkreten Vorschlag für die umge Ausschusses von Fachleuten aller 34 KSZE-Staaten, die Vorschläge für einen „kooperativen Umgang“ mit diesem Problem und den daraus absehbar erwachsenen Konflikten zwischen einzelnen Staaten erarbeitete Abschlußfassung fand nicht statt. Der Vorschlag wurde lediglich zur Kenntnis genommen. Kohl bemühte sich auf seiner Abschlußpressekonferenz, das Thema Ost-West-Migration herunterzuspielen: es habe nur eine geringe Rolle gespielt. Über Lösungsmöglichkeiten sei nicht gesprochen worden. Andreas Zumach, Paris
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen