: Besonders nette PatientInnen
■ 20.000 Schmerzmittelabhängige in Bremen / Folge: Nierenversagen, Herzkrankheiten, Krebs
Frauen sind oft besonders belastet. Mit Haushalt, Beruf und Harmonisierungsaufgaben in der Familie. Alles soll reibungslos funktionieren — und vor allem sie selbst. Frauen lösen Konflikte nicht offensiv. Sie fressen alles in sich hinein. Der Griff zum Schmerzmittel paßt dazu. Zunächst bei Kopfschmerzen oder Menstruationsbeschwerden, dann, um sich entspannt und fit zu fühlen. Deshalb sind weitaus mehr Frauen als Männer von Schmerzmittelabhängigkeit betroffen.
Vor einer Woche trafen sich namhafte ExpertInnen im Zentralkrankenhaus St.-Jürgen- Straße zu einem Symposium über die Folgen des Analgetikagebrauchs. Noch in den fünfziger Jahren glaubten die meisten Fachleute, ein chronisches Nierenleiden sei die Ursache und nicht die Folge der Medikamenteneinnahme. Heute wissen sie, daß die meisten Nierenleiden auf einen jahrelangen Medikamentenmißbrauch zurückzuführen sind. Viele ÄrztInnen erkennen das jedoch nicht. Und es ist auch schlecht nachzuweisen. Denn die PatientInnen leugnen ihr Laster wie kein anderes. Die Scham, ihre Krankheit selbst verursacht zu haben, ist groß. Viele setzen die Einnahme fort, auch wenn sie schon an der Dialyse (Blutwäsche bei Nierenversagen) „hängen“.
Professor Ulrich Dubach aus Basel stellte dem Fachpublikum eine bisher unveröffentlichte Studie vor, die die Schäden durch Medikamentenmißbrauch über zwanzig Jahre nachweist. Der Gesundheitszustand von rund 600 MedikamentenkonsumentInnen wurde mit einer gleichgroßen „cleanen“ Kontrollgruppe verglichen. Dabei stellte sich heraus, daß vor allem diejenigen, die sehr viele Schmerzmittel nahmen (2 bis 20 Tabletten am Tag) eindeutig eher an Niereninsuffizienz, Infektionen, Herzkrankheiten und Krebs erkrankten als die Kontrollgruppe. Nach zwanzig Jahren waren doppelt so viele der VielkonsumentInnen als von den Wenig-oder Gar-nicht-KonsumentInnen gestorben. Diejenigen Schmerzmittel, die nur Salicylate enthalten, sind weniger gesundheitsschädlich als Mixturen mit N-Acetyl-P-Aminophenol.
Die Fachleute bedauerten einhellig die nach wie vor offensive Werbung für Schmerzmittel — wen wundert–s — vor allem in Frauenzeitschriften. Dort werden aktive, jugendliche Frauen gezeigt, die aufgrund der Wunderpillen allen Alltagsproblemen widerstehen. Daß eine Mitvierzigerin nach jahrelangem Mißbrauch aussieht wie sechzig, das steht auch nicht im — jetzt gesetzlich vorgeschriebenen — Kleingedruckten über die Nebenwirkungen. Die frühe Alterung und Hautbräunung an nicht „lichtexponierten Stellen“, Unregelmäßigkeiten im Urin, unspezifische Berufsausfälle, „schwierige“ Familiengeschichten und Kolliken ohne eindeutige Ursache sollten Ärzte auf einen möglichen Schmerzmittelmißbrauch hinweisen. Die Chancen, jemanden von den Mitteln wegzubekommen, beurteilten alle sehr pessimistisch. Denn an die Ursache, die Lebensbedingungen, kommen die Mediziner nicht heran. Geben doch nur 10 Prozent der „Abuser“ — in einer ehrlichen Stunde — Schmerz als Grund für die Einnahme an. Die anderen wollen ihre Arbeitsleistung steigern, sich entspannen und Ängste bekämpfen. Bei vielen sind noch andere Familienmitglieder betroffen.
Die meisten PatientInnen, so die Suchttherapeutin A. Schwarz aus Berlin, sind besonders „nett“ und umgänglich. Ihre überempfindsame, spielerische Art hat sie schließlich auch an die Schmerzpille gebracht. Viele wollen wahrscheinlich deshalb lieber weiter drei bis vier Mal in der Woche zur Dialyse kommen, als sich einer Nierentransplantation zu unterziehen. Schwarz: „Die PatientInnen schätzen die Zuwendung durch die Dialyse.“ Und bringen besonders häufig kleine Geschenke für die Schwestern mit.
Arno E. Lison, Direktor der Medizinischen Klinik III der ST.- Jürgen-Straße schätzt die ungeklärten Medikamentenabhängigkeiten in der Dialyse auf 20 Prozent. In Bremen seien schätzungsweise 20.000 Menschen vom schweren Medikamentenmißbrauch betroffen. Lison: „Das ist ein strukturelles Problem, das nicht die Ärzte allein lösen können.“ Das findet auch Gesundheitssenatorin Vera Rüdiger, selbst Ärztin: „Da Frauen keine empfindlicheren Nervenfasern haben als Männer und mit Sicherheit auch nicht schmerzempfindlicher sind, müssen es offenkundig ihre realen Lebensbedingungen sein, weshalb sie — häufiger als Männer — Zuflucht in Medikamenten suchen.“
Die Senatorin finanziert eine Broschüre über Ursachen, Wirkungen und Hilfen bei Medikamentenmißbrauch, die sie von einer Apothekerin, einer Drogenberaterin und einer Heilpraktikerin in Zusammenarbeit mit dem Frauengesundheitszentrum schreiben ließ. Sie wird demnächst in Bremen ausliegen. Das ist der Anfang einer Kampagne gegen die bisher wenig beachtete Sucht. Beate Ramm
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen