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Der kriegerische Killerblick

■ »Schuß — Gegenschuß« — eine wahrnehmungstheoretische Dokumentarcollage im Sputnik Südstern

Es regnet, meine Seele, es regnet, aber es regnet tote Augen.Appolinaire, 1915

Die Männer der Wochenschauberichte. Spaß am Filmen, das Hobby mit dem Militärdienst verbinden, Frontschweine des 20. Jahrhunderts. Was die für diesen Film vor das Objektiv gesetzten Kammeramänner aus dem Zweiten Weltkrieg als eine Passion, einen abenteuerlichen Beruf mit Freude an der Sache bezeichnen, war in Wirklichkeit nicht etwa eine Arbeit voller Humor und menschlicher Begegnungen, nein, es war die modernste Arbeit des Söldners: Bilder schießen. Mehr noch als die fotografische Erfassung verlangte die Zeit nach einer höheren Form des Tötens: den Raub des Abbildes, der Seele.

Thomas Tielisch und Niels Bolbrinker zeigen in ihrer Collage aus Originalaufnahmen und Reportagen Kameramänner, die eben so wie der sich nun altertümlich ausnehmende Gewehrsoldat den Feind aufs Korn nehmen, sie visierten ihn durch eine Schießscharte an und drückten ab. Nun fiel der von der Kamera abgeschossene Gegner nicht etwa tot um, nein, er erlag einem anonymeren Tod: Er wurde erfaßt und eingegliedert, ein Partikel im riesigen Netz der Daten, zwar noch eingestuft als der Feind, aber letztlich nur als irgendeine Identität, ein Statist im Weltbild der Nationalsozialisten.

Nicht mehr als ein numerischer Identitätsvermerk, wie der, den wir mit der Scheckkarte benutzen und bald auch mit der Telefonkarte. Überall, wo Kameramänner im Krieg waren, war auch das Auge der Welt, gleich, ob es die Welt des Secret Service oder des OKW (Oberstes Kommando der Wehrmacht) war. Bezeichnenderweise war das laufende Logo der Wochenschauen die Weltkugel unter einer Filmrolle, die alle Streifen rund um den Globus an einem Ort aufspulte: Berlin. »Schwierigkeiten mit der Zensur« habe es nie gegeben, berichtet einer der Kamerasoldaten. Gelegentlich nur seien der Propaganda abträgliche Sequenzen herausgeschnitten worden: deutsche Tote, deutsche Verletzte oder deutsche Tränen. Parallel zur »realen« Welt, der materiellen Wirklichkeit der festen Gegenstände, des Hebels, des Gewehrs, der der Schwerkraft unterworfenen Welt, bildete sich ein neuer Organismus, ein schwereloser Körper der Geister zunächst und schließlich der Informationseinheiten. Dem menschlichen Gehirn ähnlich, bildete sich ein Rhizom, ein weltweites Netz der Echtzeit, wie wir es heute haben. Nicht mehr wahrnehmbar ist die Zeitverzögerung bei einem transatlantischen Telefongespräch, noch weniger bei der militärischen Datenübertragung mittels Laser.

Anfang der Achtziger löste ein nervöser, nach freudschen Regeln hysterischer Computer in den USA den Weltkrieg aus. Ein Datenfehler in seinem Riesengehirn ließ ihn sowjetische Cruise Missiles herannahen sehen. Sekunden vor dem Gegenschlag wurde der Fehler entdeckt. Heutzutage unmöglich. Das digitale Frühwarnnetz würde sofort zurückschlagen. Schuß — Gegenschuß von Thomas Tielisch und Niels Bolbrinker zeigt am Anfang einer Reihe von Filmen im Sputnik zu diesem Thema diese Entwicklung, die heute, vorerst, im Sichtbaren, in Gestalt von z.B. Timothy Leary erscheint, der verlogen den Cyberspace anpreist, in Wahrheit aber die Kreigstechnologie seiner Firma verkauft. War es früher der Computer, von Turner als Gegenwaffe zur deutschen Enigma entwickelt (1942), das Tonband, das Stereo-UKW, das Fernsehen (alles Nazi-Kriegstechnologie) oder der Space War-Müll, Teflon der Siebziger, sind es heute die Computer und der digitale Cyberspace, die der Rest der Welt nach militärischer Entrümpelung benutzen darf. Bezeichnen wir uns heute als technisch intelligent, also modern, gehört die Aussage dazu, daß der Krieg seit 1933 nicht geendet hat. Hätte er 1945 wirklich geendet, hätten wir heute keine Disketten für die Diplomarbeit, hätten wir vor allem keine aufnahmetechnisch interessante Kinokultur.

Frei nach Nam June Paik: »Film ist nicht, ich sehe, Film ist, ich fliege«. Bemerkenswert, daß das ganze Hippie und New-Age-Geschwätz vom Zeitalter des Wassermanns, von der kommenden Zeit des körperlosen Astraldaseins, schon längst Wirklichkeit ist. Baute man im Zweiten Weltkrieg noch riesige Pappmachéstädte zur optischen Feindtäuschung, simuliert heute eine unsichtbare digitale Welt den ständigen Krieg, die Wirklichkeit. Die Männer mit den fotografischen Flinten und Kanonen schossen sowieso ohne große Überlegung die richtigen Aussagen und Stimmungen. Kinder der faschistischen Weltverbesserung, visierten sie automatisch, was in den Wochenschauen daheim gesehen werden wollte: Mutiges, pfadfinderhaftes Gekämpfe, der deutsche Mensch auf Schießtour in fremden Revieren. Drehten und dokumentierten die Zelluloidmänner im Zweiten Weltkrieg wie hypnotisiert das, was die Welt sehen wollte, so setzten sie nach dem selben Prinzip nach dem Krieg ihre Arbeit in Korea und Vietnam fort.

Diesmal wollte die Welt Leichen, Kadaver, Leid; der Normalbürger war hungrig auf Blut, Mord vor der Kamera, auf den Genozid, live. Und er bekam es bedenkenlos von den Männern, die Jahre vorher strategisch »die Hoffnung« an der Front verfilmten. Bezeichnend für die Fotografie nicht nur des Zweiten Weltkrieges ist die Masse der Geister. Diente die Fotografie zu Beginn noch dem Mystizismus, der betrügerischen Doppelbelichtung, mit Hilfe derer angebliche Geister auf dem Bild erschienen, so bannten die Frontkameras unzählige Bilder von Menschen, die im realen Leben nie wieder auftauchten, anonym Gefallene, Verschollene. Doch die geraubte Seele, die visuelle Aura geistert noch heute wie in Schuß — Gegenschuß bei jeder Aufführung durch die Kinosäle. Geht man korrekterweise so weit wie Paul Virilio, sind die Kinohallen die zeitgemäßen Gruften, Gedenkstätten, Geistershows. Dunkle Orte wie die fensterlosen Datengrüfte der amerikanischen Bomberflieger.

Die Erfindung des Films, des Kinos, löst nahtlos die Geschichte der Mystik und der Phantastik Baudelaires, Poes und Huymans ab. Ihr barocker Höhepunkt, der Mesmerismus, wird verschluckt vom geisterhaften Fortschritt der Technologien, und nicht von der technisch angepaßteren Psychoanalyse.

Freud zog es sogar vor, seine Seancen telefonisch abzuhalten. Genau genommen löste die Empirie das Opium ab; vom ausschweifenden, fabulierenden Traum als höchstem zivilisatorischem Gut zur Wissenschaft der Erfassung, des akribischen Notierens. Wissenschaftliche Exaktheit, das Axiom, wurde höchste Religion. Was mit der fotografischen Flinte (1882) von Jules Marey, mit dem Telefon, dem Grammophon, der Schreibmaschine begann, war nichts anderes als eine Neuordnung der Welt. S.A.F.T.

Erster Film der Reihe »Krieg und Wahrnehmung«: »Schuß — Gegenschuß« (BRD 1990), Erstaufführung heute abend im Sputnik.

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