: Aids: Die Schnecke kriecht mühsam weiter
In der Therapie der Immunschwäche gibt das neue Medikament DDI Anlaß zu vorsichtigem Optimismus/Allerdings zeigen sich bei DDI auch schwere Nebenwirkungen/Die Deutschen hinken in der Therapie-Forschung anderen Ländern hinterher ■ Von Manfred Kriener
Hamburg (taz) — Im Schneckentempo, aber durchaus sichtbar, kommt die Therapie-Forschung im Kampf gegen Aids voran. Ein neuer Hoffnungsträger heißt DDI, ein anti- virales Mittel, das — ähnlich wie das einzige bislang in der Bundesrepublik gegen Aids zugelassene Medikament AZT — die Virusvermehrung stoppen soll. Auf dem 3. Deutschen Aids-Kongreß in Hamburg wurden am Wochenende Studien aus den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik vorgestellt. Tenor: Die Hoffnung, daß DDI zumindest eine lebensverlängernde Wirkung haben kann, scheint berechtigt.
In der Bundesrepublik erhalten seit Frühjahr dieses Jahres 200 Patienten das neue Medikament, um Wirkung und Dosierung zu untersuchen. Für sie ist DDI ein notwendiges Ersatzmedikament, weil sie AZT nicht (mehr) vertragen oder weil sich resistente Virenstämme gebildet haben, gegen die das Standard-Medikament keine Wirkung mehr zeigt. In dem von der Hersteller-Firma Bristol Myers diktierten Forschungsdesign erhalten die eine Hälfte der Patienten eine niedrige, die andere eine hohe DDI-Dosis verabreicht. Bei einem signifikanten Ergebnis soll die gesamte Kohorte auf die bessere Dosis eingestellt werden. Professor Wolfgang Stille, der Frankfurter Studienleiter der DDI-Expertise, hätte allerdings auch leicht 300 oder 400 Patienten für seine DDI-Forschungsarbeit rekrutieren können. Denn die Angst vor dem neuen und noch unsicheren Mittel ist längst nicht so groß wie die Ohnmachtsgefühle der Kranken.
Auf die Frage eines Journalisten, der an die Pharma-Diskussion der letzten Jahre erinnerte, an das Schlagwort von „Menschenversuchen“ und die Forderung nach sicheren Arzneimitteln, sagte der Münchner Act-Up-Aktivist Jürgen Poppinger: „Wir können bei Aids nicht auf sichere Langzeitergebnisse warten, dann sind wir und unsere Freunde tot.“ Patienten, die sich bei vollem Bewußtsein des Risikos und in Absprache mit ihrem Arzt für die Erprobung des neuen Medikaments entscheiden, müßten es auch erhalten, argumentieren die Betroffenen. Um ihre Forderung nach „Verfügbarkeit von DDI jetzt!“ zu unterstreichen, legten sie sich im Hamburger Congress Centrum „sterbend“ vor den Eingang zum DDI-Symposium und zwangen so Wissenschaftler und Ärzte über Leichen zu gehen.
Alle drei vorgestellten Studien belegen die positiven Auswirkungen von DDI. Eine Gewichtszunahme um mehrere Kilogramm, eine deutliche, mehrere Wochen anhaltende Erhöhung der Helferzellen, die Verringerung der meßbaren Virus-Menge und vor allem „dramatische Verbesserungen des Wohlbefindens“ waren die wichtigsten positiven Effekte bei den Patienten, für die DDI auch ein Stück neue Hoffnung bedeutet. In der amerikanischen Kohorte starben zwar zwei Teilnehmer, deren Immunsystem war allerdings schon vor Beginn der Studie vollständig zusammengebrochen.
Bei DDI zeigen sich allerdings auch schwere Nebenwirkungen. 15 Prozent aller Patienten in der amerikanischen Studie erkrankten an einer Entzündung der Bauchspeicheldrüse, häufig traten auch Neuropathien (Nervenschädigungen) auf. Zugelassen für die DDI-Studien waren in allen drei Ländern nur Patienten mit dem Vollbild von Aids oder im Vorstadium (Aids-related-Complex). Der britische DDI-Spezialist M. Nelson verspricht sich noch bessere Ergebnisse, wenn die Patienten in früheren Krankheitsstadien behandelt werden. Auch bei AZT wurde ja der Zeitpunkt des Therapiebeginns immer weiter vorverlegt, bis zuletzt sogar HIV-Infizierte ohne Krankheitssymptome den Virus-Hemmstoff erhielten. „Man kann keine Wunderdinge erwarten, wenn man DDI nur bei Patienten im weit fortgeschrittenen Stadium einsetzt“, sagte Nelson.
Trotz der bislang guten Erfahrungen mit DDI soll es auf absehbare Zeit noch Zweitmedikament bleiben, kündigte Stille an. In den USA haben aber bereits Kombinationsversuche mit AZT und DDI begonnen. Der amerikanische Aids-Forscher Thomas Merigan sieht „Hinweise für eine gegenseitige Verstärkung der beiden Medikamente“. In insgesamt 18 Studien (!) wird in den verschiedensten Dosierungen und Abfolgen die Kombination der beiden antiviralen Substanzen erforscht. Dagegen hat in der Bundesrepublik bislang noch keine einzige Kombinationsstudie begonnen.
Der kombinierte Einsatz beider Medikamente soll vor allem die beobachteten Resistenzbildungen verhindern. Schon nach sechs Monaten AZT-Therapie zeigten sich bisher, so berichtete der amerikanische Virus-Spezialist Brendan Larder, kleine Veränderungen bei einer großen Anzahl von Viren. Nach zwei Jahren AZT-Gabe treten Mutationen auf der gesamten Virus-Karte auf. Diese Viren-Mutanten lassen sich zwar nachweisen, sie können inzwischen auch im Labor gezüchtet und ihre Resistenz gegen antivirale Mittel sogar gemessen werden, aber sie lassen sich nicht bekämpfen. Hier soll die Kombinationstherapie helfen, zumal bisher keine Kreuzresistenzen zwischen AZT und DDI auftraten.
Erstmals wird AZT in den USA jetzt auch im Rahmen einer Studie an Schwangeren erprobt. Jede dritte HIV-infizierte Mutter steckt bislang ihr neugeborenes Kind an. Ein systematisches und vorhersehbares Muster scheint es für diese Ansteckung nicht zu geben. Mütter, die im Abstand von einigen Jahren mehrere Kinder zur Welt bringen, stecken manchmal nur eines an, die anderen bleiben aber gesund. Jetzt soll durch AZT-Einsatz im dritten Abschnitt der Schwangerschaft — während dieser Periode wird die HIV-Übertragung vermutet — und durch AZT- Zufuhr im Tropf während der Geburt gezielt vorgebeugt werden. In den USA sind inzwischen je nach Region zwischen zwei und fünf Prozent aller Schwangeren HIV-infiziert. Die meisten der mit HIV geboren Kindern sterben schon in den ersten beiden Lebensjahren. Die ältesten sind jetzt 13 Jahre alt geworden. Trotz der inzwischen fast unzähligen Studien mit AZT sehen die Aids-Forscher auch hier weiteren Handlungsbedarf. Vor allem der günstigste Zeitpunkt des Therapie-Beginns ist nach wie vor umstritten. Soll man HIV-infizierten Patienten, die noch keinerlei Symptome zeigen, ein Medikament verabreichen, das ihr Knochenmark schädigt? „Wieviele Versuche brauchen wir eigentlich noch?“ fragt sich nicht nur der Münchner Aids- Forscher F. Goebel, der sich bei Dosis und Therapiebeginn mehr „auf Faustregeln“ verlassen will. Goebel war es auch, der kritisierte, daß die Deutschen in der Therapie-Forschung anderen Ländern hinterherhinken: „Wir kommen bei neuen Pharmaka immer sehr spät.“ Gehört haben diese Kritik vor allem die Betroffenen. Denn diejenigen, die draußen vor der Türe ihre Flugblätter verteilten, kämpfen ums Überleben, die drinnen zunächst um die wissenschaftliche Reputation.
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