: Was der deutschen Seele guttut
■ Über das schlechte Gewissen der Deutschen gegenüber den sowjetischen Juden und den Antisemitismus in der zerfallenden SU KURZESSAY
In letzter Zeit ist viel vom Antisemitismus in der Sowjetunion die Rede. Einzelne Bürger, Vertreter linker Parteien und Parlamentsabgeordnete verlangen, daß sowjetische Juden nach Deutschland einwandern dürfen. Einige versuchen dies damit zu begründen, daß viele osteuropäische Juden ursprünglich aus deutschen Gebieten stammen oder der „deutschen Kultur“ angehörten und deshalb als Deutschstämmige anerkannt werden müßten. Andere erinnern an den Holocaust und verweisen auf moralische Gründe; das Land der Endlösung habe kein Recht, den Juden nicht zu helfen. Es gibt auch andere, pragmatische Überlegungen, die nicht offen ausgesprochen, aber sich zwischen den Zeilen ablesen lassen: Deutschland braucht bis zum Jahre 2000 einige Millionen Einwanderer, um seine Beschäftigungsstruktur erhalten und die Rente für die überalterte Bevölkerung aufbringen zu können. Dabei will man Juden zur bevorzugten Gruppe gegenüber anderen Nationalitäten machen.
Haben Sinti und Roma auch ein Plätzchen im schlechten deutschen Gewissen?
Das tut der deutschen Seele gut. Aber wo sind Sinti und Roma, gibt es für sie auch ein Plätzchen im schlechten deutschen Gewissen? Die Idee, daß die neu zugewanderten Juden an die Stelle der vergasten treten sollen, daß jüdisches Leben blühen soll, als ob nichts geschehen wäre, ist eine geschmacklose Täuschung. Dafür gibt es in der Geschichte ein gutes Symbol — die Errichtung des Tempels, der immer wieder zerstört wird. Und warum? Weil Ruinen an Geschehenes erinnern, ein Neubau aber Geschichte verdrängt. Schlechtes Gewissen sagt viel über die moralische Qualität der Bürger, es kann aber zu einer gefährlichen Waffe werden, sobald es politisch instrumentalisiert wird. Jene, die die Juden lieben, die den Holocaust „aufgearbeitet“ haben, haben sich vorgenommen, nun den Juden zu helfen. „Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Wie man augenblicklich in Deutschland die Frage der Einwanderung sowjetischer Juden diskutiert, scheint das zu bestätigen. Soweit zu dem, was Deutschland betrifft. Was aber ist mit Rußland?
In der Sowjetunion wächst der Antisemitismus. Das ist unbestritten. Doch gibt es in diesem Land, das in Auflösung begriffen ist, eine Vielzahl von Nationalitäten, die in diesem Prozeß unter die Räder kommen und deren Blut schon geflossen ist: Armenier, Mescheten, Abchasen, Krimtataren, Russen. Ja, Russen. Sie werden in verschiedenen Republiken nicht nur beschimpft und bedroht, sie werden gejagt und zusammengeschlagen, wie jener Junge in Moldawa, der ermordet wurde, weil er auf der Straße „zu laut“ russisch gesprochen hatte. Unter der Million Flüchtlinge, die es gegenwärtig in der Sowjetunion gibt, machen die Russen vielleicht ein Drittel aus. Sie haben keine „Heimat“ im Ausland und sind gänzlich der Untätigkeit der Behörden und der Feindseligkeit ihrer Mitbürger ausgeliefert. Auch sie haben Kinder, auch sie haben Angst um sie.
Ein Drittel der Flüchtlinge in der Sowjetunion sind Russen
Die Aggressionen der in der Völkerwanderung obdachlos Gewordenen, ihre Ausgrenzung aus der Gesellschaft können die schlimmsten Auswirkungen haben. Die Pogrome von Baku waren von aus Armenien geflüchteten Aserbeidschanern, die in Slums am Rande der Stadt lebten, verübt worden. Ihr Ziel war es, möglichst viele Armenier und Nichtarmenier aus der Stadt zu jagen, weil sie so wenigstens ein Dach über den Kopf bekommen konnten. Vor einigen Monaten haben Vertreter des „Russischen Flüchtlingskomitees“ erklärt, sie hätten keine Ansprüche auf die Wohnungen der „russischen“ Bürger Moskaus...
Im ersten Weltkrieg wurden die in den Grenzgebieten lebenden Juden zum Sündenbock für die Niederlagen der russischen Truppen gemacht. Man hat sie der Spionage für die Deutschen beschuldigt, ihnen ihr Eigentum geraubt, sie zu Zehntausenden aus dem Frontgebiet ausgewiesen, ohne ihnen Aufenthaltsgenehmigungen außerhalb des jüdischen Siedlungsgebietes zu geben. So wurden sie praktisch zu Geiseln gemacht. Jene, die heute in Rußland die Juden für die Revolution und die Grausamkeiten des sowjetischen Regimes verantwortlich machen wollen, interessiert das wenig. Die geschichtliche Wahrheit anzuerkennen, fällt immer schwer, besonders in der „Zeit der Wirren“. Mythen sind zählebig. Die sowjetischen Juden, die heute die Möglichkeit haben, nach Israel und Amerika auszuwandern, werden zu Objekten des Neids. Es gibt viele, die an Stelle der Juden sein möchten, auch wenn sie sich das offen nicht eingestehen. Neid bringt Haß zur Welt. Der Haß wird zum Antisemitismus.
Wenn Deutschland die sowjetischen Juden, Gott bewahre, zu „Juden deutscher Nation“ erklärt, tritt sofort die uralte Konstellation wieder in Kraft: die Juden als fünfte Kolonne. Es wäre naiv, zu glauben, daß Deutschland, das in diesem Jahrhundert zweimal Krieg gegen Rußland geführt hat, aus dem kollektiven Unterbewußtsein des russischen Volkes verschwunden wäre. Russen sagen den Deutschen im Gefühl der Niederlage Worte der Versöhnung, weil es hilft, das Gesicht zu wahren und weil es im Moment wichtigere Probleme gibt. Aber nicht immer ist das, was gesagt wird, auch so gemeint. Die Deutschen werden heute zum guten Onkel mit der dicken Geldbörse stilisiert. Und was passiert mit denen, die „Sonderbeziehungen“ zum reichen deutschen Onkel haben? Sie werden zu Objekten des Hasses. Ein Wort macht die Runde, das doch gebannt werden sollte: Pogrom.
Der gegenwärtige Antisemitismus in der SU ist Folge von Neid
Nach 1917 haben circa 500.000 vor den Bolschewiki flüchtende Emigranten aus Rußland in Deutschland Asyl gefunden. Damals hat die Weimarer Republik keine Unterschiede zwischen den Nationalitäten der Flüchtlinge gemacht. Ist es nicht merkwürdig, daß nach dem Holocaust, in einem Europa, dessen Politiker darauf bestehen, daß die Idee des Nationalstaates sich überlebt hat, es immer wieder die Nationalitäten sind, die Sonderrechte bekommen? Der Holocaust ist keine Rechtfertigung dafür, sondern umgekehrt — eine Warnung. Meine Mutter, die aus dem weißrussischen Shteti kam und Augenzeugin der Pogrome während des Bürgerkrieges war, sagte über die Judophilen immer: Gott bewahre mich vor Freunden, mit Feinden werde ich irgendwie schon selber fertig. Sonja Margolina
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