: »Arriviertes kleines Übel«
■ Dieter Kunzelmanns Gardinenpredigt an die AL und den Mann mit dem roten Schal — ohne Goldkante
»Wir würden uns geflissentlich täuschen, wenn wir uns überreden wollten, der Freiheit Sinn habe nicht auch bei uns und vielleicht bei dem größten Teile des Volkes Wurzeln gefaßt, nicht zwar jene chimärischen Ideen, die im Club zu Mainz gepredigt werden, wohl aber der Wunsch, von wahrhaft drückenden Lasten befreit und das allgemeine Volksglück befördert zu sehen.« (Hofrat Kalkhoff von Kurmainz, Januar 1793)
Der November hat es in sich. November in Berlin, das ist seit jeher die Zeit der Stürme, des Nebels und der schnellen Finsternis. Er schlägt hart auf die psychische Meteorologie. Der November in Berlin ist die Zeit der Brüche, des Gärens und des Aufbruchs: 1966, 1980, 1989. In diesem Jahr, 1990, schlägt der November auf allen Berliner Barometern wild um sich. Zwei Welten begegnen und beschnuppern sich, gehen sich gegenseitig auf den Wecker. Gewonnene Freiheit zieht in Lichtenberg, Friedrichshain, Mitte und Prenzlauer Berg ein. Polizeitruppen, gleichgeschaltete Medien, Einschüchterung durch die Gewalt des Staatsapparates stehen dagegen. Für unsereins seit 30 Jahren nichts Ungewohntes. Das berüchtigte Stasi-Gespenst der chinesischen Lösung im Oktober 1989 in Leipzig schwebt faßbar über Friedrichshain.
Die politische Landkarte Berlins war selten überschaubarer als heutzutage. Aus wahltaktischen Gründen startete der rot-grüne Senat eine wohlvorbereitete Provokation. Schweinebacke Mompitz (die lieben Schweinchen mögen mir verzeihen) bringt den Zynismus der Macht auf den Begriff: Aus den zerschundenen Köpfen der MainzerInnen zaubert Mompitz noch das wohlfeile Argument der »sozialen Konfliktlage« in Richtung Bonn, um ja nur nicht der Kohle verlustig zu gehen. Die Probleme der kommenden Hauptstadt sind zu lösen und sei es eben so und nicht anders; die Olympiade ist nicht gefährdet, wir haben alles im Griff. Die betrogenen Betrüger der AL spielen mit. Noch Stunden nach der Räumung, die sie nicht verhindert haben, nicht verhindern wollten, jammern sie nach Gesprächsbereitschaft. Gehört es nicht zum bürgerlichen Machtpoker, die Senatspartnerin im dunkeln zu belassen, damit sie sich um so aufrechter empören kann, wenn sie nicht sogar — wie bisher — alles schluckt?
Auch jenseits des dumpfen SPD- Stimmenfangs gibt es weitere Schmutz- und Schundmotive: mal den Ossis zeigen, wer der Herr im Hause ist, wie Widerstand gebrochen wird. Und alle Stasi-Leute klatschen Beifall — voller Respekt und Melancholie. Die tatsächliche Bedeutung des 14.11.90 liegt jedoch jenseits machtpolitischer Ränkespiele. An diesem Tag ist Rot-Grün zu Grabe getragen worden, und im Sarg liegt die AL. Entstanden als oppositionell-utopische Sammelbewegung, ging sie unter durch den Verlust der Basis, durch die Angepaßtheit an die herrschenden Normen, im Strudel des Diktats kleingeistiger PolitfunktionärInnen. Aus dem »Wir wollen alles« ist nach zwölf Jahren ein resigniert-arriviertes kleineres Übel geworden. Doch für ein kleineres Übel gibt es weder parlamentarisch und noch sehr viel weniger außerparlamentarisch eine politische Überlebenschance. Besonders in einer neuen, hochschwangeren Stadt, in der sich vor und hinter jeder Tür die Probleme unbewältigt-aggressiv auftürmen. Doch es geistert auch ein unglaublich kreatives, vielseitiges, kulturrevolutionäres Potential aus aller Frauen Länder und aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten in der Stadt herum — befähigt dazu, Berlin in eine seiner Menschen würdige Stadt umzugestalten.
Die AL dagegen ist von innen heraus ausgetrocknet und nach außen zur Konfliktverhütungsclique verkommen. Sie nicht mehr zu wählen, ist am 2. Dezember erste radikaldemokratische BürgerInnenpflicht. In selten günstiger Konstellation können wir aus dem ehemaligen Berlin (West) mit unserer Zweitstimme für das neue Abgeordnetenhaus (lindgrüner Wahlzettel) Liste 5 ankreuzen, Bündnis 90 et.al. Aus Respekt vor dem illegalen Widerstand unter der SED-Herrschaft und weil die BürgerInnenbewegungen in den FNL (Fünf Neuen Ländern) und dem verflossenen Berlin (Ost) noch nicht der Verparlamentarisierung ohne Basis unterlegen sind wie AL/Grüne. Und vielleicht kommen die Leute vom Bündnis 90 mit der SPD- Schweinepriesterei besser zurecht als die AL-Hohlköpfe.
Zweifellos werden sich durch die Erfahrungen der bevorstehenden Auseinandersetzungen demokratische Strukturen von unten jenseits aller verrotteten Parteien herauskristallisieren. Demokratie und selbstbestimmtes Leben werden der Parteienherrschaft und Fremdbestimmung entgegentreten. Die Utopien mit den Händen greifen, das Gewachsene verteidigen und das Immergleiche und die frustrierenden Abwehrscharmützel vergessen. Schon jetzt bleibt die Erfahrung des 14.11.: Verarschen der hochgerüsteten Exekutive durch Unterlaufen mit List öffnet unseren politischen Bewegungsspielraum mehr als die direkte Konfrontation. Wenn in Berlin kein anderes Leben als das beherrschte möglich sein soll, dann wird es zu Krankfurt mit Bonner Provinzbürokratenmief verkümmern.
Der November geht zu Ende, der Dezember bricht an. Wir müssen uns alle warm anziehen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Nutzen wir ihn. Das Schild am Mainzer Freiheitsbaum 1792/93 trug die Schrift: »Vorübergehende! Dieses Land ist frei! Tod demjenigen, der es anzugreifen wagt!« Etwas weniger martialisch bitteschön, und die Wahrheit bleibt. Dieter Kunzelmann
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