: »Arithmetik« für große Koalition
■ Wahlverlierer SPD und AL lecken die Wunden, während die CDU auftrumpft/ Momper hält Rot-Grün für »auslaufendes Modell«
Berlin. Einen Tag nach den ersten Gesamtberliner Wahlen läuft alles auf eine große Koalition hinaus — obwohl rein rechnerisch auch andere Mehrheiten möglich sind. Im neuen Abgeordnetenhaus wird die CDU über 100 Sitze verfügen, die SPD über 76, die AL über 12, Bündnis 90/Grüne 11, die FDP 18 und die PDS 23. Die großen Wahlverlierer SPD und AL zogen sich gestern morgen erst einmal zurück, um die vernichtende Wahlniederlage zu analysieren, während der Sieger Eberhard Diepgen zu seinem großen Vorsitzenden nach Bonn jettete.
SPD gibt der AL die Schuld
Die Selbstkritik der SPD bewegte sich gestern gegen Null: Nach der Sitzung des Parteivorstandes bezeichnete Walter Momper das Bündnis mit der Alternativen Liste erneut als »Hauptursache« für das schlechte Abschneiden seiner Partei. Daneben gebe es nur »sekundäre Gesichtspunkte«. Die SPD selbst habe allerdings ebenfalls einige »Unklarheiten« gezeigt, räumte der SPD-Chef ein. Nach Ansicht des großen Verlierers gilt dies ausgerechnet für das Thema der »Bandenkriminalität« und die »klare Abgrenzung gegenüber Wirtschaftsflüchtlingen«. Darüber hinaus sei die Arbeitsmarktpolitik »nicht energisch genug« angegangen worden. Zu persönlichen Konsequenzen aus dem Wahlergebnis wollte sich Momper nicht äußern. Nicht nur für die Stadt sei nun »Stabilität« gefragt, sondern auch für die SPD. Seine Partei stehe für eine große Koalition zur Verfügung, nachdem »Rot-Grün ein auslaufendes Modell« sei. In der SPD begannen bereits am Sonntag abend die Spekulationen über die Zukunft des Regierenden. Momper wird der Regierung wahrscheinlich nicht angehören, sondern allenfalls Fraktionsvorsitzender werden. Die SPD will auf einem Parteitag am Freitag das weitere Vorgehen klären und sich mit ihrer Niederlage befassen.
CDU für große Koalition
Als »großen Tag für die Union« feierte indessen CDU-Generalsekretär Landowsky gestern das überraschend gute Abschneiden seiner Partei vor der Presse. »Was Berlin jetzt braucht, ist eine Regierung der Verantwortung«, so Landowsky mit deutlichem Verweis auf eine große Koalition, die das »arithmetisch einzig Machbare sei«. Die Verhandlungen mit der SPD sollen bald beginnen, aber auch mit den Liberalen und dem Bündnis 90 sollen »Gespräche« geführt werden. Rechnerisch wäre auch eine CDU/FDP/Bündnis '90-Konstellation möglich. Landowsky kündigte eine Bilanz der rot- grünen Regierungszeit an und versprach bereits »Kurskorrekturen«, ohne nähere Einzelheiten verraten zu wollen. Es müsse erreicht werden, daß der Ostteil so schnell wie möglich auf »Hauptstadtniveau« komme und sich der Westen mit anderen Metropolen messen könne.
AL übt sich in Reue
Während die CDU ihren Sieg feierte, zog sich die AL hinter verschlossene Türen zurück, um die Niederlage zu analysieren. Nach mehrstündigen Beratungen sprach sich die Parteispitze gestern nachmittag für einen »grundsätzlichen Neuanfang« der Partei im Sinne einer »konzeptionellen Neuorientierung« aus. Auf der Pressekonferenz — an der neben der Ex-Umweltsenatorin Schreyer und der Fraktionsvorsitzenden Künast auch die Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschußes, Lohauß und Brüggen, teilnahmen — wurde selbstkritisch konstatiert, daß die AL als grüne Regierungspartei wichtige Politikfelder sträflich vernachlässigt habe: »Alle reden von der Einheit, und wir reden vom Wetter«, erklärte Peter Lohauß. »Wir müssen klarmachen, wie das neue ökonomische Konzept für Gesamtdeutschland aussieht«. Willy Brüggen betonte, daß bei der Neuorientierung »soziale und ökonomische Fragen« in den Vordergrund gerückt werden müßten. Die EX-Umweltsenatorin Schreyer beklagte, daß es SPD und AL nicht verstanden hätten, der Bevölkerung die Erfolge der rot-grünen Regierung, wie die Einführung des Tempolimits, zu vermitteln. Auch die »streitbare Kultur« sei von der Bevölkerung zunehmend als Regierungsschwäche interpreteiert worden. Der größte Fehler sei jedoch gewesen, daß SPD und AL »schon vor dem Koalitionsbruch« gegeneinander Wahlkampf gemacht hätten statt auf die rot-grüne Politik zu setzen. Die Konsequenzen aus der Wahl sollen auf einer Sitzung des Delegiertenrates am Mittwoch und auf einer Mitgliederversammlung am Samstag diskutiert werden. kd/hmt/plu
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