: Marx ist tot, Jesus lebt
Der Wahlabend im Fernsehen: Alte Rituale, aufgeblähte Sieger, Durchhalteparolen und heißlaufende Computer bei einem Ergebnis, daß eigentlich schon vor den ersten Hochrechnungen feststand ■ Von Reinhard Mohr
Die Technik hat es möglich gemacht. Was harmlos als „Prognose“ daherkommt, ist längst eine Art erster Hochrechnung. Sieger und Verlierer standen längst fest, als die ARD um 18.21 Uhr die erste „richtige“ Hochrechnung auf das Wahlergebnis präsentierte. Die eigentliche Sensation neben dem Sturz von König Momper in Berlin — der katastrophale Einbruch der Grünen — zog sich dagegen bis in die Nacht hin. Bereits die erste ARD-Schaltung in die Bonner „Bisquithalle“, kongenial gewähltes Hauptquartier der gerade zehn Jahre alten Ökopartei, zeigte ungläubiges Staunen angesichts des Abrutschens auf fünf Prozent minus x.
Das erste Blick in die FDP-Zentrale ergab neben der Information, im benachbarten Zelt spielten die „Semmel Hot Shots“ auf, vor allem einen Programmhinweis in eigener Sache. „Leo“ Lukoschik wies, wie immer formvollendet, im ZDF auf sein montägliches ARD-Unterhaltungsmagazin Leo's hin. Politiker wollen um 18.23 Uhr noch nicht vor die Kameras. Außer Heiner Geißler und Norbert Blüm, dem man immer noch die innere Genugtuung über seinen historischen Satz „Marx ist tot, Jesus lebt“ ansieht. Geißler hingegen hat seine Abservierung durch Kohl noch immer nicht überwunden und flüchtet in die Überidentifikation: „Ich weiß, daß Helmut Kohl genauso denkt wie ich“, verkündet er kurz vor halb sieben.
Zur gleichen Zeit weiß der passionierte „Notizen“-Schreiber Johannes Gross schon, daß „das Volk mit diesem Wahlergebnis die Wiedervereinigung ratifiziert hat“ und man deshalb auf alle Debatten über Verfassung und Volksabstimmung verzichten können.
Die Publizistin Cora Stephan spricht aus, was große Teile der Grünen noch in zehn Jahren nicht verstehen werden: Basis und Überbau der Partei hätten nach dem Fall der Mauer „zu lange geschmollt“, statt Politik zu machen.
Die machte und macht Helmut Kohl, der Punkt 19.34 Uhr auf dem Bildschirm auftaucht. Während bei der ARD „die Computer heißlaufen“, verteilt der „Kanzler für Deutschland“ jovial die Fragerechte an die beiden großen Sender. Nachdem SPD-Parteichef Hans-Jochen Vogel statuarisch und wie ein Feldwebel schmetternd das Wahldesaster als Ergebnis eines großartigen Kampfes von Oskar Lafontaine interpretiert hatte, erschien der Kandidat selbst um viertel vor acht, um kurz darauf von dem wie ein Silvesterkarpfen nach Luft schnappenden Ernst-Dieter Lueg (ARD) befragen zu lassen. Zunächst noch fast gelöst wirkend, grub sich die Enttäuschung im Verlauf des Abends immer tiefer in das Gesicht des Kohl-Herausforderers, dem Fritz Pleitgen mit Randbemerkungen immer wieder Mut zur Zukunft zu machen versuchte. Auch mit den Grünen meinte er es gut, besser, als die es mit sich selber halten.
Der grüne Bundestagsbeauftragte Hubert Kleinert hatte zwar schon nach der „Prognose“ der ARD eine grundsätzliche Veränderung seiner Partei gefordert, doch Jutta Ditfurth bekannte sich, unbeeindruckt vom Verschwinden der Westgrünen aus dem Bundestag, zum dialektischen Prinzip des „Weiter so, Jutta“: Da sie im Parlament sowieso außerparlamentarische Arbeit angestrebt habe, könne sie diese nun ebenso gut außerhalb des Parlaments leisten. Daß sie die Schuld für die böse „Abstrafung der Grünen“ (Cora Stephan) nicht etwa in ihrer Parole „Nie wieder Deutschland“ sieht, die nun — es lebe die Dialektik! — in der Einverleibung der restlichen grünen Bundestagsmandate durch die Freunde aus dem Osten ihre Apotheose findet, gehört zum radikalökologischen Prinzip der argumentativen Kreislaufwirtschaft. Schuld sind natürlich die anderen, allen voran Antje Vollmer. Vorstandssprecherin Renate Damus fand gleich überhaupt nichts „Dramatisches“ und verwies auf ein grünes Comeback in vier Jahren. Den FernsehzuschauerInnen wird sie gewiß nicht fehlen. Die „Bonner Runde“ hatte dafür mit Gregor Gysi (PDS) und Marianne Birthler (Grüne/ Bündnis 90) gleich zwei „Ossis“ in ihren Reihen, die das Ritual etwas auflockerten. Obwohl Klaus Bresser (ZDF) und Martin Schulze (ARD) versuchten, etwas direkter und respektloser zu fragen, verließ die „Elefantenrunde“ dennoch nicht den gewohnten Rundkurs zwischen Dank und Hinweis auf die Parteigremien, deren Entscheidungen man „nicht vorwegnehmen“ könne.
Ein wirkliches Gespräch hatte wieder mal Spiegel TV (RTL) zu bieten. Der von Kohl geschaßte und jetzt auch aus Thüringen vertriebenen Exmitarbeiter von Heiner Geißler, Wulf Schönbohm, analysierte treffend das Wahlergebnis und profilierte sich nebenbei noch als Schattenberater des gescheiterten SPD- Kanzlerkandidaten, dem er vorhielt, nicht der Strategie Willy Brandts gefolgt zu sein.
Während sich viele bei Diagnose Mord (ARD) oder Billy Wilders Ein, zwei, drei (ZDF) erholten, blieb Hessen 3 eisern: 23.10 Uhr Dämonen im Felde. Ein Versuch über die Vogelscheuche. 23.35 Uhr Deutschland hat gewählt. 23.50 Uhr Das Letzte.
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