Distanz zu den deutschen Wir-Gefühlen

Konferenz der „Außerparlamentarischen Opposition gegen Deutschland“/ Ruf nach „antinationaler Identität“ und „befreiten Zonen“  ■ Aus Hamburg Bernd Siegler

Während über 46 Millionen sich mit ihrer Stimme an den ersten gesamtdeutschen Wahlen beteiligten, demonstrierten etwa 1.000 Menschen in Hamburg unter dem Motto „Keine Stimme für Deutschland“. Diese Demonstration war der Schlußpunkt einer in der bundesdeutschen Linken heftig umstrittenen Kampagne für einen Wahlboykott. Das weitere Vorgehen wurde dann auf der Konferenz der „Außerparlamentarischen Opposition gegen Deutschland“ (APO-D) am vergangenen Wochenende in Hamburg diskutiert. Aufgerufen dazu hatten Einzelpersonen und Organisationen, wie z.B. die Mehrheit der „Radikalen Linken“, die „Antifaschistische Aktion Hamburg“, der „Arbeitskreis Umweltschutz Wiesbaden“ oder die „Autonome Lupus-Gruppe Rhein/Main“. Sie alle einte die Einschätzung, daß es in der jetzigen Situation notwendig sei, „von Massenfreundlichkeit als dem zentralen Politikkriterium Abschied zu nehmen“.

Schon bei der Einschätzung der Lage in Deutschland konnten sich die KongreßteilnehmerInnen nicht darauf einigen, ob es sich um eine „neue“ Situation handele, ob also die Veränderungen im kapitalistischen System bestimmend sind oder die Kontinuitäten. „Die These vom 4. Reich ist Schwachsinn“, erklärte z.B. Der Vertreter der „Autonomen Lupus-Gruppe“. Die Hamburger Ex-Grüne und ehemalige Bundestagsabgeordnete, Regula Bott, begann ihre Überlegungen zu Perspektiven des außerparlamentarischen Widerstands ebenfalls bei der Bestandsaufnahme des Status quo. Sie prognostizierte in Europa die Errichtung einer „Armutsgrenze“ entsprechend der mittlerweile zum eisernen Vorhang ausgebauten Grenze zwischen den USA und Mexico. „Auch der letzte konsumfreudige deutsche Citoyen wird merken, daß Wohlstand und Nationalismus eine Einheit sind.“ Dementsprechend werden sich im „Frontstaat Deutschland“ nationalistische Aggressionen noch verstärken. Bott konstatierte das Aufkommen eines „Wohlstandsrassismus“, der die Abwehr von Armut und Verelendung und damit die Ausgrenzung von Flüchtlingen, AusländerInnen, Behinderten, Kranken und Alten bedeutet. Im Gegensatz dazu will der Hamburger Historiker und Arzt, Karl-Heinz Roth, in den 90er Jahren den Sprung wagen „vom Jahr der Negation zu den Jahren revolutionärer Politik“. Die „Annexion des Nachbarstaats DDR“ führe in Windeseile Deutschland in eine Situation der „Deregulierung gesellschaftlicher und ökonomischer Macht“. So werde das Land katapultiert in eine Situation der sozialen Spaltung (Ost/ West), der radikalen Umverteilung von Masseneinkommen zur Finanzierung der Einheit sowie einer mit neuen Strategien rassistischen Chauvinismus' gekoppelten Massenarbeitslosigkeit. Aus dieser Massenverelendung und der Zerstörung sozialer Existenzgarantien leitet Roth die Möglichkeit für Klassenkämpfe ab. Für Roth gibt es derzeit mangels Integrationsperspektiven nur noch „revolutionäre Gegenmacht“. Orientierungspunkte für die Einleitung einer neuen Massenpolitik sieht er z.B. Im Häuserkampf, in einem neuen revolutionären Syndikalismus und in einem neuen Angriff auf die Wissenschaft. Dieser Orientierung auf eine Massenbewegung erteilte Oliver Tolmein von der 'Konkret‘- Redaktion eine klare Absage. Linke Politik müsse sich in vielen Punkten gegen unmittelbare Bedürfnisse und Interessen des „Volkes“ wenden z.B. Gegen die Abwehr gegen neue Flüchtlingsheime. Die letzten Auseinandersetzungen um die Hafenstraße in Hamburg und die Mainzer Straße in Berlin haben, so Tolmein, eine neue Eskalationsstufe offenbart. Es gehe nicht mehr allein um die Räumung der besetzten Häuser, sondern um die „Zerstörung einer Kultur“. Als Indiz dafür führte er die erst nach der Häuserräumung erfolgte Zerstörung des „Antiquariats der DDR-Literatur“ in der Mainzer Straße durch die Polizei an. Tolmein forderte die Linke auf, mit den sozialen Bewegungen der letzten 20 Jahre „radikal zu brechen“. So sei die Friedensbewegung zum Einfallstor für Nationalismus geworden. Der Paradigmenwechsel in der AKW-Bewegung habe diese von einer linken zu einer rein ökologisch orientierten Bewegung gemacht und nach Tschernobyl die Ausbreitung des Rufes nach pränataler Diagnostik ermöglicht. „Die westdeutsche Linke mag links denken, der Bauch reagiert immer rechts“, zitierte er aus einem Brief des in der DDR verhafteten RAF-Mitglieds Inge Viett.

In der anschließenden Diskussion favorisierten verschiedene Konferenzteilnehmer als zukünftige Strategie die Bildung sogenannter „befreiter Zonen“. Dort sollten zusammen mit ImmigrantInnen eine „antinationale Identität“ aufgebaut werden. Der Slogan „Nie wieder Deutschland“ dürfe nicht, als ausschließlich gegen die Wiedervereinigung gerichtet, mißverstanden werden. Zur Entwicklung einer „antinationalen Identität“ gehöre die Aufarbeitung linker Geschichte ebenso wie der Aufbau von Brückenköpfen in allen Sektoren der Gesellschaft und einer neuen Subkultur „in Distanz zu allen Wir-Gefühlen dieses Staates“. Im Kontrast zur geforderten Prioritätensetzung auf antirassistische Arbeit stand die Praxis auf dem Kongreß. So war der Block „Rassismus, Euthanasie, Antisemitismus — Nebenwidersprüche?“ am schlechtesten besucht. Die schon an der „Radikalen Linken“ kritisierte fehlende Einbindung des Feminismus und der Behindertenbewegung wurde für die „Außerparlamentarische Opposition gegen Deutschland“ erneuert. Die Konferenz beschloß die bundesweite Herausgabe einer Flugschrift, in der deutsche Interessen und die deutsche Beteiligung am Golfkrieg herausgearbeitet werden. Den Fehler der APO, die in ihrem Engagement gegen den Vietnamkrieg die BRD lediglich als Komplize der USA ohne eigenständige Interessen dargestellt hatte, will man nicht wiederholen.