■ NOCH 3314 TAGE BIS ZUM JAHR 2000: Der deutsche Engel-Boom
Wim Wenders, der in seinem Film Der Himmel über Berlin zwei Engel in die damals noch geteilte Stadt schickte, ist mitschuldig am neuen deutschen Engel-Boom. Die geflügelten Biester sind gefragter denn je. Nicht etwa als Weihnachtsdekoration oder Schokoladenfiguren, oh nein, die neue Hochkonjunktur der Engel ist eine christliche Variante der vom New Age eingeleiteten Rückbesinnung auf alte Mythen. Nach der katholischen Lehre sind Engel Geister, von Gott geschaffen. Sie sind körperlos, aber der Herr hat ihnen Verstand und freien Willen serienmäßig eingebaut. Anscheinend traute Gott seiner Kreation nicht ganz und stellte sie auf die Probe. Und Gott hatte recht. Nicht alle bestanden den Test, und es kam der berühmte Engelsturz. Seitdem gibt es gute, selige Engel und unselige, gefallene Engel. Die durchgefallenen Engel waren selbstverständlich sofort weg vom Fenster und mußten sehen, wie sie als böse Geister zurechtkamen. Die guten himmlischen Heerscharen setzte Gott als Boten oder Vollstreckungsbeamte ein. Die Menschen, Gottes zweiter Versuch, machten natürlich sofort eine Wissenschaft (Angelologie) aus den Engeln. Zwar wurde schon sehr früh vor dem Engelkult gewarnt, und die Synode von Laodicea beschloß anno Domini 360 ein Verbot der Engelverehrung, aber es hat alles nichts genutzt. Die Menschen wollten Engel, also besorgten sie sich welche. Dabei fiel ein gewisser Dionysius Areopagita besonders unangenehm auf. Der phantasievolle Mann entwickelte ein System von drei Hierarchien und neun Chören der Engel. Gott hat sich wahrscheinlich scheckig gelacht auf seiner Wolke.
In den letzten Jahren war es ziemlich still geworden um Gabriel, Michael, Raphael und Konsorten, doch seit kurzem geht der Tanz wieder los: Kurse zur Kontaktaufnahme mit dem persönlichen Schutzengel erfreuen sich großer Beliebtheit. Hochschulveranstaltungen über Angelologie sind überfüllt. „Engelerfahrungen“ — bezeugte Erscheinungen oft im Grenzbereich zwischen Leben und Tod — machen die Runde. Eine Tagung der Evangelischen Akademie in Rastede-Hankhausen (Landkreis Ammerland) am letzten Wochenende zum Thema „Wiederkehr der Engel“ lockte immerhin 100 Teilnehmer (90 Prozent von ihnen waren Frauen) an. Wenn das so weitergeht, wird wohl auch endlich die alte, überaus interessante theologische Streitfrage, wieviel Engel auf einer Nadelspitze Platz haben, befriedigend beantwortet werden können. Karl Wegmann
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