: Herr Schweppenhäuser entkorkt sich
Über den deutschen Durchschnitt in der akademischen Philosophie ohne die FNL ■ Von Elke Schmitter
In diesen frohlockenden Zeiten, da Deutschland zu sich selbst findet, ist die Ungleichzeitigkeit der anhängigen Prozesse offensichtlich und nicht zu ändern. Während die Differenz der Gemütslagen in Ost und West, das Geschlechter- und Konsumverhalten in ihrer Erlösung noch von lebendiger Verzögerung bestimmt sind, dulden diverse andere Angleichungen keinen Aufschub: Die politische, wirtschaftlich-strukturelle und vor allem die institutionelle Versöhnung der Gegensätze schreitet mit Macht voran. Unter den institutionellen Versöhnungen ist die akademische jene, die wohl mit der größten Umstandslosigkeit ins Werk gesetzt wird — als gälte es, nun gründlich und zugleich bescheiden, da ohne bemerkenswerte Publizität, alte bundesrepublikanische Unterlassungssünden wettzumachen. Unter der realistischen Maßgabe, daß in der Konkurrenz der Mittelmaße das ehemals westdeutsche die kommende Tonlage wesentlich bestimmen wird, ist ein Blick auf diese in die Zukunft verlängerte Gegenwart geboten. Unter den geisteswissenschaftlichen Fächern eignet sich die Philosophie für einen solchen Blick in hervorragender Weise, weil sie, durch kein Materialobjekt gebunden, in keinerlei Rechenschaftsverhältnis zur Wirklichkeit steht. Ihre Möglichkeiten sind mithin unbestimmt und daher die allergrößten; ihr Durchschnitt ist infolgedessen am aufschlußreichsten, denn er bildet ohne jede äußere Notwendigkeit das konstitutive Mittelmaß der Geisteswissenschaften ab.
In etwa dieser Erwägungslage fiel der Rezensentin der schöne Band Philosophen des 20.Jahrhunderts in die offenen Hände, herausgegeben von der Professorin Dr.Margot Fleischer und bestückt mit Aufsätzen von Philosophieprofessoren der ehemaligen BRD sowie (in Ausnahmen) der Schweiz und Österreichs. Es handelt sich sämtlich um Beiträge, die auf eine einführende Vortragsreihe an der Universität Siegen im Jahre 1987 zurückgehen. Im lakonisch kurzen Vorwort zu diesem Band, in dem die Heidegger-Kapazität Otto Pöggeler mit einer noch zu erwähnenden Preziose der prominenteste Autor ist, (der also eher von den Lagerverwaltern als den Exportschlagern der deutschen Philosophie geschrieben wurde) bemerkt die Herausgeberin trocken, bis auf den fehlenden Beitrag über Popper „dürfte die Absicht, eine repräsentative Auswahl aus den Philosophen des 20.Jahrhunderts vorzustellen, erfüllt sein“.
Unter den Vorgestellten, sämtlich Denker der „ersten Welt“, findet sich keine Frau. Die Franzosen sind mit Merleau-Ponty, Foucault, Camus und Sartre vorgestellt, folglich ohne Lévi-Strauss, Deleuze, Barthes, Guattari, Derrida, Levinas, Bachelard usf. Man entschied sich für Adorno, Bloch und Marcuse und gegen Horkheimer, Benjamin, Hersch, Arendt und Anders, für Scheler, aber gegen Jaspers, für Quine, aber gegen Whitehead usw. Diese Aufzählung ist nicht denunziatorisch gemeint: keine Auswahl kann mehr als eine solche sein. Die Universität der ehemaligen BRD denkt europäisch bzw. nordamerikanisch sowie männlich und ist am räumlich wie ideologisch Fremden nicht interessiert. Ein Mindestmaß an intellektueller Verantwortung würde allerdings nahelegen, beim Begriff der „Auswahl“ zu bleiben und auf den Euphemismus des „Repräsentativen“ zu verzichten.
Zu den Sachen selbst. Der deutsche Feinsinn zeigt sich am liebsten in der Philosophie und ebenda im historischen Kleide. Otto Pöggeler nimmt es auf sich, Martin Heidegger unter dem Aspekt der „Philosophie und der Problematik der Interpretation“ vorzustellen, was auf ein ehrenvolles Wagnis schließen läßt. Jedoch sind die Enttäuschungen andere als erwartet, nur der Feinsinn ist der gewohnte. Pöggeler formuliert zu Heideggers berühmter Rektoratsrede 1933, in welcher der Philosoph die Freiheit zur Pflichterfüllung und Hitler zum Prometheus umdachte, mit Eleganz: „Heidegger hat damals dem Kanzler der nationalen Koalition angesonnen, sich über seine Partei zu erheben und verhängnisvolle Programmpunkte (wie die Rassenlehre, die falsch geplante Universitätsreform) zu ändern.“ Hitler als „Kanzler der nationalen Koalition“ ist eine sehr hübsche Schöpfung, origineller noch als die „Rassenlehre“, aber kaum weniger bemerkenswert. Die „falsch geplante Universitätsreform“ ist schon eine kaum erhoffte Steigerung des Feinsinns, denn was hat man sich darunter vorzustellen? Im Prinzip in Ordnung, in der Planung mangelhaft? In der Durchführung um so besser? Der Gipfel des Erhabenen ist allerdings mit dem Wort „angesonnen“ in eben diesem Zusammenhang erklommen, der ja so sonnig nicht ist, aber durch dieses Wort immerhin Besonnenheit nahelegt, wie Pöggler sie auch später wieder finden wird: „In den düsteren Jahren 1944/45 schrieb Heidegger ein Gespräch über Gelassenheit.“ In Anlehnung an ein Wort aus Sein und Zeit könnte man Otto Pöggeler, der auch gern von Philsophie „in einer verwandelten Zeit“ spricht, entgegenhalten, er rede nur schief von dem, wogegen Martin Heidegger blind war.
Der Skandal jener Sätze liegt nicht nur in ihrem Gehalt, sondern auch in ihrer Absicht — die rein erledigend ist. Der eigentlich philosophischen Aufgabe, Heideggers Verwirrung in jenen „düsteren Jahren“ einer systematischer Untersuchung in der „Problematik ihrer Interpretation“ zu unterziehen, entzieht sich Pöggeler nämlich. Nach dieser Passage verläßt er das Terrain der historischen Bedachtsamkeit, um sich seinem Eigentlichen, dem philosophischen Gebäude ohne seinen Ort, zuzuwenden: „Nach den Irrungen und Wirrungen“ (Fontane schwingt hier zart, aber wohl unbeabsichtigt mit, denn es geht ja nicht um Tändeleien), „in die Heidegger durch sein verhängnisvolles politisches Engagement gestürzt wurde, hat er sich wieder auf seine Aufgabe konzentriert, die Philosophie in ein neues, unserer Situation entsprechendes Wesen finden zu lassen.“ Heidegger wurde also durch sein Engagement, dasverhängnsvoll war (für wen?), in „Irrungen und Wirrungen gestürzt“, er ist somit zugleich Opfer und Täter. Diese tiefe Wahrheit wird nun aber keineswegs betrachtet, beleuchtet und ausgesprochen, sondern durch diese schwielige Heimatprosa ignoriert, in der von dunkler Zeit und düsteren Jahren geraunt wird, um dann „das Sein oder Wesen des Heiligen und Göttlichen neu vorauszudenken“.
Zum zweiten Teil dieses repräsentativen Satzes: Wie prädestiniert war ausgerecht Heidegger für „seine Aufgabe“ (Wer hat sie ihm gestellt? Was hat er dafür aufgegeben?), die Philosophie „ein neues Wesen“ (was immer damit gemeint sein mag) nicht nur finden, sondern sie in dasselbe finden zu lassen? Was ist das überhaupt für eine verschämte Girlandensprache, die immer noch das Wesen umarmt, wenn sie sich vor dem Wesentlichen drückt? Otto Pöggeler, für diesen Beitrag als „souveräne Gesamtdarstellung Heideggers“ übrigens von der 'Neuen Züricher Zeitung‘ gelobt, fand es offenbar überflüssig, die bis in die jüngste — sich leider immer wieder wandelnde — Zeit anhaltende Debatte mit neuen Forschungsergebnissen auch nur zu erwähnen. Die Ignoranz gegenüber der peinlichen Verschränkung gerade der akademischen Philosophie mit dem herrschenden Bewußtsein ihrer Zeit charakterisiert die zwar geistferne, aber gewohnte universitäre Praxis. Mit diesen Sätzen, die sich weder sinnvoll im strengen Sinne des Wortes über Heidegger äußern, noch den Anstand haben, ihre eigene Absenz zuzugeben, sondern noch weniger klar sind als jede durchschnittliche Proseminararbeit über den sinnenden Schwarzwälder, mit diesen Sätzen, die brav und bescheiden nichts anderes versuchen, als möglichst wenig anständig zu sagen und denen nur das erste gelingt, hat der Professor nicht nur sich selbst blamiert, sondern auch die ganze wertfreie Vorlesungsattitüde, mit der vom Erstsemester bis zum Doktorandencolloquium die StudentInnen der Philosophie in der ehemaligen BRD daran gewöhnt wurden, daß das Denken am lohnendsten ist, wenn es nichts bedeuten will und kann.
Neben Martin Heidegger gehört Theodor W. Adorno zu jenen deutschen Philosophen, bei deren Anhängerschaft der Umschlag von Quantität in Qualität nur bedingt zu verzeichnen ist. Die Adorniten, gemeinhin durch die Nachstellung des sich sich zu erkennen gebend wie auch im erheischenden Gebrauch manch anderer Vokabeln, pflegen gern jene Funktion unwillentlich zu wiederholen, die Jan Philipp Reemtsma einmal als grundsätzlich für die Philosophie Heideggers diagnostizierte: die des mißverstandenen Kalauers. Ein hervorragendes Beispiel für diesen anhaltenden Mißstand bietet der Einführungsaufsatz zu Adorno von Professor Hermann Schweppenhäuser im besprochenen Band. Dort lesen wir: „Der strenge Sinn und die Not des Deutens lassen die Substitution, die Erschleichung eines wie immer gearteten höheren Symbolisierten durch projektiv-modelnde Anschauung eines Seienden oder Zeichens als eines Symbols nicht zu — die jenes fragwürdigen symbolisch Repräsentierten, von dem her ein Fragliches als Fragloses sich wie von selbst expliziere.“ Von selbst expliziert sich hier allerdings fraglos, daß der Verfasser sich in einen Gedanken begab, in dem er umkam. Wie sprach der Meister selbst zu Rosenzweig: „Das sind Sprachphilosopheme, die ich auch nicht verstände, wenn ich sie verstünde.“ Die Schwierigkeiten der Philosophie sind keineswegs damit erschöpft, daß es am Mut fehlt, sich des eigenen Verstandes zu bedienen — es gebricht auch an der eigenen Sprache. So fährt der vielleicht beschwipste Professor fort: „Philosophie muß sich der hyperphysischen, der metahistorischen Gewißheit ihrer ,Hinterwelt‘ entschlagen, die das Wirkliche im Vordergrund als deren bloßes Sublimat erscheinen läßt.“ Entschlagen Sie sich, Herr Professor. Jedoch: „Charakteristisch sind einerseits Anstrengung, Beharrlichkeit und Umsicht, das ingeniöse Experiment, womit die Investigation den Befund eruiert und sichert; dabei bezeugt sich im gesicherten Befund die Angemessenheit des Erbohrten und des Erbohrens.“ Nehmen wir einen Korkenzieher und bohren wir ihn in den gesicherten Befund der Angemessenheit. Wir können, mit Ingeborg Bachmann, klare Sätze finden. Oder wir können klare Schnäpse trinken. Nur beides zusammen sollten wir tunlichst vermeiden.
Kurz und gut: Man kann gar nicht so viel lesen, wie man zitierten möchte. Es braucht zum Straucheln nichts als Füße, aber manche nehmen gern den Verstand zu Hilfe. Wenn man sich beiläufig klarmacht, daß diese Autoren mit komfortablen Beamtengehältern die Steuergelder nicht nur verfrühstücken, sondern mit den Ergebnissen ihrer vermutlich harmlosen Gelage auch noch die Hirne ihrer StudentInnen füttern, dann fragt man sich wahrhaftig, ob man nicht doch besser von diesem Geld Kanonen kaufen sollte. Nach philosophischen Maßstäben allerdings ist eine solche Frage im Letzten sinnlos: „Das Manko des Schlüssels“, erfahren wir von Schweppenhäuser, „ist das des vorgegebenen Sinns. Es an der Differenz des wissenschaftlichen und des philosophischen Vorgehens sich vergegenwärtigt zu haben, verbietet dem ernsthaften philosophischen den Symbolismus des sinnschwangeren, doch befundlosen Wähnens ein für allemal.“
Margot Fleischer (Hrsg.): Philosophen des 20.Jahrhunderts, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, 265 Seiten, geb., DM 49,-
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen