: Von der Umbeutung zur Ausbeutung
Klaus Wildenhahns Dokumentarfilm „Der König geht“, Samstag, 20.15 Uhr, N3 ■ Von Dietmar Hochmuth
Im nicht etwa engbedruckten Pressedienst des NDR heißt es: „Maurer, Zimmerleute, Bauleiter, Architekten, Steinmetze. Dieselben Leute, die in sieben Jahren die Semper-Oper wiederaufgebaut haben. Zeit: Mai bis Juli 1990. Am 1. Juli wurde die Währung umgestellt. — Ein Dokumentarfilm, 105 Minuten.“
Klaus Wildenhahn ist zwar bei diesem Sender angestellt (im Ur-Westen wohl eher eine Seltenheit, im Ex-Osten bisweilen einzig möglicher Alltag) — wenn er sich allerdings auch über diese müde Empfehlung seines neuesten Films im hauseigenen Bulletin laut Arbeitsvertrag gleich mitfreuen müßte, wäre das fast schon wieder ein Kündigungsgrund. Bei allem Verständnis dafür, daß Fernsehen Fließbandproduktion ist — Wildenhahns Filme sind es nicht, dieser hier schon ganz und gar nicht. Er ist wichtiges Dokument deutscher Gegenwart, das finanziert zu haben der NDR sich glücklich schätzen kann.
Das Jahr 1990 hatte bekanntlich im November 1989 begonnen und spektakuläre Bilder en masse ausgespuckt, nicht jedes von ihnen ist ein Dokument und nicht jedes Dokument ein Bild. Vielleicht rührt daher der hohe Verschleißgrad, von Worten gar nicht zu reden. Wildenhahn dagegen war von Anfang an aus dem Schneider: Er ging nicht mit der heißen Nadel vor und trödelte doch nicht. Er mied Berlin, die sich anbietende Stadt. Er mied auch Leipzig..., sondern er ging nach Dresden, die heimliche Ur- Hauptstadt der DDR (weil der Sachsen), bislang das Tal der toten Augen. So konnte er hier DDR-Rudimente noch wie im Reagenzglas erwischen und sie in ihrem steten, auf ewig festgeschriebenen Zustand aufwecken. Ein besonders fotogener Kontrast tat sich da für ihn auf bei der Beobachtung von Männern der Baustelle Dresdner Schloß, vor dem Schnitt am 2. Juli.
Heute, da die drei Buchstaben DDR wohl auf Jahre nur noch assoziiert werden mit Stasi (sogar Versicherungsagenten operieren mit diesem Buhmann, wenn sie der „Allianz“ die durch Beitritt vererbten Kunden der Staatlichen Versicherung abjagen wollen), ist die gerechtere Erinnerung an ein paar Quadratkilometer jenes der Gebietsreform buchstäblich über Nacht anheimgefallenen Landes umso wertvoller. Zwar hat die DDR unsäglich viel kaputte Städte „hinterlassen“, aber (und das sei hier nicht nur erinnert, weil man über Tote nichts Schlechtes sagen soll) auch einige „Vorleistungen des historischen Wiederaufbaus“, der nicht erst 1990 beginnt (ja, wann eigentlich?!), „übergeben“.
Sicherlich stimmten auch hier, wie überall, die Proportionen nicht, aber nach Lage der Dinge scheint die Aufrechnung, lieber Halberstadt sanieren als die Semper-Oper hochziehen, unsinnig. Für beides war kein Geld da. So wurde nach Plan rekonstruiert, absehbar auf Jahre flossen Gelder aus dem Förderschlund für Kultur. Ganze Betriebe knüpften ihre Existenz an diese Gegebenheit, auch der VEB Gesellschaftsbau Dresden. Unter der Glasglocke solcher Absicherung konnte, bei allem Mangel an vielem, Handwerk gepflegt, harte Arbeit bei Wind und Wetter liebgewonnen werden — arbeiteten manche Männer über dreißig Jahre in einer „Brigade“ zusammen, heulten sie im Parkett der Semper-Oper zu deren Einweihung („Nun reiß dich mal zusammen, bist doch 'n Mann“, ermahnten die Gattinnen). Auch das ist nun vorbei. Der volkseigene Betrieb zerfiel, das heißt: Er wurde zerfallen. „Übernommen“ (so lautet die meistzitierte Haß-Sehnsuchts-Formel dieser Tage — besonders bei Polizisten, Postangestellten, Ministerialdienern).
Wildenhahns Film fixiert die Halbwertzeiten — der Betrieb soll saniert werden. Da er aber allein von staatlichen Aufträgen zehrte, dürfte dies nach dem vorläufigen Wegfall des Staates dasselbe Ansinnen sein wie etwa ein Lyzeum rentabel zu machen, was eigentlich nur durch Verwandlung in einen Puff denkbar wäre. Der VEB wurde etappenweise geschlachtet, zunächst ging er in Teilen an frühere Besitzer, am Ende jedoch wird er landen bei Münchner BMW-Fahrern: „Und die Zähne sieht man nicht...“
Wildenhahn läßt sich Zeit, fast zwei Stunden — trotzdem: Selten habe ich einen so kurzen Dokumentarfilm gesehen. Wildenhahn macht auch nicht viel Worte, seine Kommentarsätze sind knapp, ja karg, entbehren häufig des Verbs. Plumpes Biertischgeduze („Nun erzähl' doch mal...“) ist ihm gänzlich fremd. Er baut keine Bilder, er findet sie. Ihre Polemik steckt in der Strenge, in Nüchternheit, ihre Kraft auch in der Montage von Schloßruine, Schloßführung, königlichen Tassen, Geschirr, Kantinentassen und Assiettenfressen, fertiger Oper. Wildenhahn fixiert höchst unaufdringlich, und vor allem deshalb vertraut man seinen Bildern, die schleichende Umwandlung der Fiktion Volkseigentum in die Realität einer Kapitalgesellschaft.
In der DDR gab es keine Ausbeutung, sondern Umbeutung: eine kollektive Zwangs-Lebensversicherung namens „zweite Lohntüte“ — davon durfte man kostenlos zum Arzt, konnte man die Miete vergessen, Kinder kriegen und großziehen, sogar die Semper-Oper bestaunen (wenn man denn Karten bekam...). Was davon blieb, ist nun endlich in treuen Händen, vor der Landnahme wurde es ja nur verpraßt... „Alles, was wir ein Leben lang nicht auf die Hand kriegten, ist jetzt für'n Arsch“, sagt einer von den Männern. Und meint: wird hinter verriegelten Türen gehandelt. Neue Zeichensprache: „Wenn Ihr mich am Montag besoffen durch Dresden torkeln seht, dann haben wir's geschafft!“, sagt sein alter neuer Boß. Er meint die GmbHisierung. Wer ist „wir“ in diesen Tagen? Vom „wir“ zum „ich“. Hoffnungen und Ängste von Leuten, deren Sehnsüchte nach einem besseren Leben sich neue Sprücheklopfer vorgesattelt haben. Wildenhahn läßt Theo Waigel aus klirrendem Kofferradio die alte SED-Losung „So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ neu unters wenig begeisterte Volk bringen.
Der König geht — eine jähe Gewißheit und beziehungsreiche Eindeutigkeit im Titel, bedrückend und beschämend zugleich. Da streiten sich die (linken) Geister noch immer, ob es denn eine Revolution war... — als könnte eine derart heftige Neuordnung der Macht- und Besitzverhältnisse anders definiert werden! Klaus Wildenhahn wirkte als ihr unbestechlicher Chronist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen