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Das Land mitnehmen

Mit den Autorinnen Emily Nasrallah und Hanan al-Scheich sprachen  ■ Leila Chamma und Klaus Farin

Emily Nasrallah, 1931 im Libanon geboren, arbeitete bis 1987 als Journalistin in Beirut, lebt seitdem in Kairo. In deutscher Übersetzung liegt von ihr vor: Septembervögel; Lenos-Verlag, Basel 1988; 199 S.; 32 Mark.

Hannah al-Scheich, 1945 im Libanon geboren, arbeitet und lebt seit 1975 als Journalistin zunächst in Kairo, später in London. In deutscher Übersetzung liegt von ihr vor: Sahras Geschichte; Lenos-Verlag, Basel 1989; 260 S.; 32 Mark.

taz: Was fasziniert Sie am Schreiben, an der Literatur? Wann entstand Ihr erstes Werk?

Emily Nasrallah: Während des Krieges habe ich angefangen, Kinderbücher zu schreiben. Meine Tochter war noch sehr klein, und ich habe Geschichten erfunden, um sie von dem Krieg abzulenken. Ein Großteil meiner Werke ist jedoch während des israelischen Einmarsches zusammen mit unserem Haus verbrannt. So sind von mir nur sechs Romane und fünf Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht.

Hanan al-Scheich: Ich war sehr einsam, als ich klein war, weil meine Mutter das Haus verließ und einen anderen Mann heiratete, als ich ungefähr acht Jahre war. Damals fing ich an zu lesen, und das hat mich fasziniert. Ich habe alles gelesen, sogar die Zettel in Medikamentenpackungen. Durch das Lesen habe ich entdeckt, daß ich auch eigene Gedanken habe und die gerne aufschreiben würde. Und als ich ungefähr 14 war, hatte ich das Gefühl, daß die richtige Zeit dafür gekommen ist. Ich habe angefangen, über alles zu schreiben, was mich gestört hat. Ich glaube, das Schreiben hat mich damals psychisch beruhigt. Und ich habe Sachen aufgeschrieben, die ich niemandem sagen konnte.

Gibt es in Ihren Arbeiten ein zentrales Thema?

Hanan al-Scheich: Die Kindheit. Ich glaube, daß meine Kindheit keine normale Kindheit war. Ich lebte in der Großstadt Beirut, aber meine Umgebung waren alles Leute aus dem Süden. Und im Sommer, wenn ich in unser Dorf gefahren bin, habe ich dort ein ganz anderes Leben entdeckt. So lebte ich zwischen zwei Welten.

Der Bürgerkrieg versetzte Sie zwangsweise in eine dritte Welt. Wie hat die Emigration Ihre Arbeiten verändert?

Hanan al-Scheich: Der Libanon wurde merkwürdigerweise in London viel deutlicher in meinem Kopf. Ich war geographisch sehr weit weg, aber psychisch war ich noch dort. Am Anfang lebte ich sehr zurückgezogen, ich wollte mich einfach nicht umsehen, mich nicht mit dem neuen, europäischen Leben konfrontieren. Es ist wohl unsere Angewohnheit, unser Land immer mitzunehmen, wenn wir in ein anderes Land gehen. Ich hatte furchtbare Sehnsucht nach Beirut. Ich habe seine Gerüche wahrgenommen und seine Musik gehört, und alles ist in mir lebendig geworden. Ich habe damals sehr viel erst einmal in Rohform aufgeschrieben, ich hatte das Gefühl, ich müßte ganz schnell schreiben, als wär's morgen zu spät. Erst Jahre später habe ich gemerkt, daß ich in Ruhe schreiben kann, ohne daß mir jemand sagt, das ist erlaubt oder nicht. Es gab plötzlich keine Verbote, keine Tabus mehr. Ich hatte erstmals in London das Gefühl, wirklich alles thematisieren zu können. Ich habe zum Beispiel zum ersten Mal in einer sehr deutlichen Sprache über Sexualität geschrieben, ohne sie zu verschleiern.

Emily Nasrallah: Ich würde meinen Fortgang aus dem Libanon nicht als Emigration bezeichnen, sondern eher als zeitweiligen Auslandsaufenthalt. Ich bin erst seit einem Jahr in Ägypten, und ich werde hoffentlich bald in den Libanon zurückkehren. Die Fremde ist für mich ein Schock, den ich bisher noch nicht literarisch verarbeiten konnte. Denn die Quelle meiner Inspiration war immer die libanesische Gesellschaft, das Land, das ich kenne, die Dörfer. Deshalb ist meine eigene Auswanderung noch nicht in meinen Arbeiten aufgetaucht. Aber die Entfremdung, der Auszug aus dem Dorf in die Stadt, ist ein zentrales Thema, ebenso der Krieg, die Situation der Frauen im Krieg, die Befreiung der Frauen.

Welche Rolle spielt die Befreiung der Frauen überhaupt in der modernen arabischen Literatur — und umgekehrt: Welche Bedeutung hat die Literatur für die Frauenbewegung?

Emily Nasrallah: Ich möchte zuerst etwas klarstellen: Wir werden hier immer in ein Zelt getan, doch die Lage der saudischen Frauen unterscheidet sich sehr von der der kuwaitischen Frau usw. Arabische Frauen haben noch keine menschenwürdige Freiheit erlangt — das ist die Gemeinsamkeit. In den arabischen Ländern ist der Weg dahin noch weiter als in Europa. Aber hier waren die meisten Frauen in der Frauenbewegung Intellektuelle. Als ich meinen ersten Frauenroman schrieb, wußte ich noch gar nicht, daß es eine Frauenbewegung gibt. Ich hatte keine theoretische Grundlage, es war eher ein Bedürfnis, das Halsband zu zerbrechen, mich von den Fesseln zu befreien.

Hatten Sie auch keine literarischen Vorbilder? Immerhin gab es eine Nawal el-Saadawi schon in den 50er Jahren...

Emily Nasrallah: Ja, es gab sogar schon in der Generation meiner Großmutter Schriftstellerinnen, die sehr bewußt und sehr wach waren und ihr Schreiben als Mittel der Befreiung sahen. Die gesamte arabische Literatur ist bis jetzt kein gesellschaftsverändernder Faktor. Das hängt mit der Situation unserer Länder zusammen: Aufgrund der Kriege und anderer Unruhen lesen die Menschen lieber aktuell-politische, aber auch religiöse Bücher — und auf der anderen Seite Pornos. Dann gibt es einen hohen Analphabetismus, bis zu 70 Prozent in einigen Ländern, natürlich zumeist Frauen.

In „Sahras Geschichte“ erringt ein schiitisches Mädchen aus dem südlichen Libanon sozusagen im Schutze des Krieges ihre psychische und sexuelle Freiheit. Wie entstand dieses Werk?

Hanan al-Scheich: Ich fing an, dieses Buch zu schreiben, gleich nachdem ich den Libanon verlassen hatte. Ich hatte sehr große Sehnsucht nach meinem Land, ich wollte über den Krieg schreiben, aber nicht über Bomben und militärische Auseinandersetzungen. Der Krieg sollte nur der Hintergrund für das Schicksal eines Mädchens sein, das durch diesen Krieg sozusagen aufgeweckt wurde, weil plötzlich alle moralischen und gesellschaftlichen Tabus wegfielen. Niemand kümmert sich mehr darum, wann das Mädchen nach Hause kam oder ob es Umgang mit Jungen hatte. So fängt sie während des Krieges an zu leben. Sie beginnt eine Beziehung zu einem Scharfschützen und empfindet zum ersten Mal sexuelle Lust. Sie wird schwanger, erzählt es ihm, er erschießt sie. Er wollte kein Kind. Ich habe dieses häßliche Ende ernst gemeint. Denn auch wenn der Krieg viele Sahras zunächst befreit hat, war die Freude zwangsläufig kurz. Dieser Krieg, der soviel zerstört, gibt letztendlich keinem Menschen die Freiheit.

Emily Nasrallah: In den ersten Jahren des Krieges sind viele 17-, 18jährige Frauen in den Kampf gezogen, um ihre eigene Freiheit zu verwirklichen. In einer normalen Zeit hätten die Eltern es ihnen nie erlaubt, in einem Raum mit Männern zu schlafen, zu essen, zu leben. Aber die Freiheiten wurden nicht gesetzlich verankert. Die Frauen, die sich befreit haben von dem Druck ihrer Eltern, von der Gewalt der Gesellschaft, werden nicht mehr ins Haus zurückkehren. Die Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen. Aber — um ein Beispiel zu geben: Es gibt im Libanon viele ungeschriebene Gesetze. So muß jede Frau, die aus dem Land reisen will, eine Erlaubnis holen von ihrem Mann oder ihrem Bruder oder auch von ihrem eigenen Sohn. Die libanesischen Frauenorganisationen haben schon vor dem Krieg für die Aufhebung dieses ungeschriebenen Gesetzes gekämpft. Mit Erfolg: In den ersten Kriegsjahren wurde es nicht mehr praktiziert. Aber inzwischen wurde das wieder rückgängig gemacht. Heute brauchen die Frauen wieder eine Erlaubnis, wenn sie das Land verlassen wollen. Der Krieg hat die Repressionen gegenüber Frauen wieder verstärkt und gleichzeitig die Aktivitäten der Frauen geschwächt.

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