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Vom schwäbischen Musterländle zum verseuchten Dioxinländle

In Baden-Württemberg schließt der Parlamentarische Untersuchungsausschuß zur Dioxinverseuchung seine Arbeit ab/ Lehrstück in verzögerter Umweltpolitik  ■ Aus Stuttgart Erwin Single

Seit dem Seveso-Unfall hat kaum ein Stoff soviel Ängste ausgelöst wie das Dioxin. Experten befürchten durch die Daueremission des Ultragiftes über Jahrzehnte hinweg einen wahren „Flächenbrand“. Als die ersten alarmierend hohen Dioxinwerte aus dem badischen Rastatt und dem fränkischen Crailsheim-Maulach bekanntgeworden waren, hatte die SPD vor eineinhalb Jahren im Stuttgarter Landtag einen Dioxin-Untersuchungsausschuß durchgesetzt. Ulrich Brinkmann, SPD-Umweltsprecher und Ausschußvorsitzender, warf damals dem immer lächelnden Umweltminister Erwin Vetter vor, „bewußte Körperverletzung im Amt“ begangen zu haben, weil ihn das Ausmaß der Dioxinbelastung nicht zum Eingreifen veranlaßte. Rund 100 Zeugen und Experten wurden seitdem vor den Ausschuß geladen. Dessen Ziel war nicht nur, Fehler und Versäumnisse der Landesregierung aufzudecken, sondern die gesamte Dioxinproblematik samt der „Dioxinnester“ im Land politisch unter die Lupe zu nehmen.

Der wohl einmalige Ausschuß schrieb dabei ein Lehrstück zum Thema Umweltpolitik: Dioxinschleudern, vornehmlich Kabelverschwelanlagen, Metallhütten und Alu-Schmelzen, pusteten jahrzehntelang das Ultragift ungehindert in die Luft. Anwohner liefen bei den Ämtern Sturm, ohne daß die Klagen für Abhilfe gesorgt hätten. Behörden, von den offenkundig überforderten Stadtverwaltungen bis hinauf zu einem recht tatenlosen Umweltministerium, wiegelten den Schrecken ab und schoben Informationen, Zuständigkeit und Verantwortung hin und her. Wissenschaftler und Experten, ihre strikte Neutralität wahrend, hielten sich bei der toxikologischen Bewertung zurück und erklärten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Dioxinbelastung und Gesundheitsgefährdungen seien unzureichend. Und obwohl inzwischen die meisten Dioxinbuden geschlossen, Anbauempfehlungen erlassen, der verseuchte Boden teilweise ausgetauscht, und Wohnhäuser von dem giftigen Staub gereinigt wurden, erklären die Behörden noch heute, alle Maßnahmen seien vorsorglich erfolgt. Der Minister gab zu Protokoll, bei allen bisher festgestellten Dioxinkonzentrationen sei von Fachleuten betont worden, es läge keine konkrete Gefährdung vor.

Doch die Fachleute wollten sich nicht immer vor den Karren der Landesregierung spannen lassen. Vor dem Ausschuß konnten sich beispielsweise weder der als „Dioxin- Papst“ apostrophierte Tübinger Chemiker Hanspaul Hagenmeier noch Professor Wolfgang Lingk vom Bundesgesundheitsamt (BGA) erklären, wie ihre Namen in eine vom Stuttgarter Regierungspräsidium 1986 zu Maulach abgegebene „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ gerieten. In einem Schreiben hatte die Behörde dem Crailsheimer OB mitgeteilt, daß kein Anlaß bestehe, „irgendwelche Maßnahmen zu treffen“ und sich dabei auf Hagenmeier und Lingk berufen. Beide stritten ihre Beteiligung ab; Hagenmeier seinerseits hatte bereits die ersten Dionxinwerte aus Maulach als „besorgniserregend“ bezeichnet.

Allein 1.290 Nanogramm (ng) pro Kilo des hochgiftigen Seveso-Dioxin 2,3,7,8 TCDD waren 1985 in den Filterstäuben der Maulacher Kabelverschwelhütte Hölzl gefunden worden. Die Anlage, mit der sich der Petitionsauschuß des Landtags schon 1979 wegen Rauchgasbelästigung beschäftigen mußte, wurde daraufhin endlich geschlossen. Nach den Meßergebnissen rückte die kunststofferzeugende Industrie auch ihre Behauptung zurecht, bei der Verbrennung von PVC könnten keine Dioxine entstehen. Doch erst 1989 wurde der ganze Dioxinskandal aufgedeckt: Obwohl die Bodenbelastung in der Umgebung bis zu 29.000ng betrug, wurden erst danach Anbauempfehlungen erlassen, die das BGA bereits ab 5 ng vorsieht. Obwohl im Hausstaub von zwei an das Firmengelände angrenzenden Wohngebäuden Dioxinmengen von über 500 ng festgestellt wurden, brachte die Stadt Crailsheim dort Asylbewerber unter. Erst als Ärzte bei den Flüchtlingen gesundheitliche Probleme feststellten, verfügte das Regierungspräsidium einen Unterbringungsstopp. Nun will die Stadtverwaltung in dem Anwesen wieder Asylbewerber einquartieren — mit Genehmigung des Regierungspräsidiums.

Klammheimlich korrigierten die Behörden frühere Einschätzungen: Da gestand der Ex-Regierungspräsident Manfred Bulling überraschend vor dem Untersuchungsausschuß, der jahrelang als unbedenklich eingestufte Dioxin-Fall Maulach sei einer der schwersten in Europa. Und ein Gutachter der Landesanstalt für Umwelt revidierte im Prozeß der Firma Hölzl gegen das Land seine ursprüngliche Emissionsausbreitungsrechnung, wonach der Dioxingrenzwert erst in 2.000 Jahren erreicht sei, plötzlich auf zehn Jahre.

In mühsamer Kleinarbeit förderten die Parlamentarier zutage, wie die Dioxingefahr jahrelang verharmlost, den BürgerInnen Informationen vorenthalten und eine Sanierung des kontaminierten Geländes hinausgezögert wurde. So auch in Rastatt, wo um die seit 1986 stillgelegte Metallhütte Fahlbusch, einem Tochterunternehmen der norddeutschen Raffinerie, ebenfalls rekordverdächtige Dioxinspitzenwerte gemessen wurden: 110.800 ng auf einem Grünstreifen an der Fabrikmauer, 450 ng auf dem nahegelegenen Kinderspielplatz, 134 im Kopfsalat, 578.444 ng im Staub auf dem Dachboden eines benachbarten Einfamilienhauses. Mehrere hundert Strafanzeigen seien seit 1956 wegen Staub- und Geruchsbelästigung gestellt worden, berichtete Polizeihauptkommissar Heise dem Ausschuß. Die Anwohner des „Monsters“ klagten über Augenbrennen, Schleimhaut- und Brechreize.

Gesundheitsministerin Barbara Schäfer, sich auf eine BGA-Stellungnahme stützend, sah zwar „keine unmittelbare, konkrete Gefahr“ für die Anwohner, wollte aber nicht untätig bleiben: Sie gab eine Studie über die Krebssterblichkeit in Rastatt in Auftrag. Rund 70 Millionen DM soll die Sanierung des Dioxin-Viertels kosten, mit der Spezialtrupps in Schutzanzügen begonnen haben. „Es mutet uns natürlich seltsam an, wenn wir das sehen“, beschrieb BI-Vorsitzende Gudrun Eisenhauer die Sanierungarbeiten. Eine Umsiedlung der Bevölkerung wurde mehrmals schroff zurückgewiesen. Nachdem neue Luftproben mit 5,8 Picogramm pro Kubikmeter kürzlich den weltweit höchsten Dioxinwert ermittelten, fordern Mediziner nun eine rasche Evakuierung.

Minister Vetter muß sich vorhalten lassen, die Dioxin-Fälle im Land nicht gerade zu seiner Chefsache gemacht zu haben.

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