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„Abrüstung — ja, arbeitslos — nein“

100.000 Zivilbeschäftigte an den Militärstandorten fürchten um Arbeitssplätze/ 23.000 akut gefährdet/ ÖTV fordert zu morgigen Tarifgesprächen regionale Strukturpolitik und Sozialplan  ■ Von Martin Kempe

Damit wir uns nicht mißverstehen“, stellte Dieter Wolkenfuß gegenüber der Gewerkschaftszeitung 'ötv-magazin‘ klar, „auch wir sind für Abrüstung“. Aber dennoch sieht der Geschäftsführer der Gewerkschaft der Zivilbeschäftigten der Nationalen Volksarmee in Neubrandenburg die rasante Entmilitarisierung in der ehemaligen DDR mit gemischten Gefühlen. Denn rund 5.500 direkt oder indirekt bei der NVA beschäftigte Neubrandenburger haben nun Angst um ihren Arbeitsplatz. „Man darf uns nicht im Regen stehen lassen. Es müssen Ersatzarbeitsplätze her“, fordert Wolkenfuß, der inzwischen der Gewerkschaft ÖTV beigetreten ist.

Auch Ullrich Galle, Landesvorsitzender der ÖTV in Rheinland- Pfalz, bekennt sich zur Abrüstung. In einem nahezu einstimmig angenommenen Initiativantrag an den DGB-Bundeskongreß formulierte er im Mai dieses Jahres die Erwartung, „daß die geschichtlich einmalige Chance genutzt und alle Möglichkeiten zur Sicherung des Friedens“ ausgeschöpft werden.

Aber auch ihn plagt die Sorge um jene, die in seinem Organisationsbereich, dem am dichtesten militarisierten Gebiet Europas, bei der Bundeswehr oder den alliierten Streitkräften als Zivilbeschäftigte ihr Geld verdienen. Rund 24.600 sind es in Rheinland-Pfalz allein bei den Alliierten, vor allem der US-Army, die jetzt der Abrüstung mit Bangen entgegensehen. Und seit Monaten trommelt Galle unter dem Motto „Abrüstung — ja, arbeitslos — nein“ dafür, möglichst rechtzeitig „alternative Arbeitsplätze“ bereitzustellen. Denn eines möchte Galle nicht erleben: daß die von Arbeitslosigkeit bedrohten Beschäftigten, die zum großen Teil in der ÖTV organisiert sind, eines Tages für die Aufrechterhaltung des militärischen Status quo auf die Straße gehen.

In Ost- und Westdeutschland bringt der Abbau von ausländischen und inländischen Truppen ganze Regionen an den Rand der Strukturkrise. Und so kämpft die ÖTV seit mehr als einem Jahr für ein „Konversionsprogramm“ im Bereich der Zivilbeschäftigten militärischer Einrichtungen.

Der Kalte Krieg wird in Deutschland ein gigantisches soziales Problem hinterlassen. Mehr als 1,3 Millionen in- und ausländische Soldaten stehen in Gesamtdeutschland unter Waffen, davon 580.000 der Bundeswehr plus die der ehemaligen NVA. Und 350.000 zusätzliche Zivilisten sind in Ost und West in militärischen Einrichtungen beschäftigt, um den Betrieb am Laufen zu halten.

Und die Palette der von der Abrüstung Betroffenen reicht vom renommierten Bundeswehr-Krankenhaus in Koblenz bis zur Bewirtschaftung der Forsten auf Militärgelände. Die ÖTV geht von einer Truppenreduzierung bei den ausländischen Streitkräften von 750.000 auf weniger als 200.000, bei der Bundeswehr von 580.000 auf 370.000 Soldaten aus. Die Zahl der Zivilbeschäftigten wird sich entsprechend auf weniger als 150.000 reduzieren — für stark militarisierte Regionen wie Rheinland- Pfalz oder das Umland Berlins ein Arbeitsmarktproblem erster Güte. Wie es gelöst werden soll, darum geht die laufende Auseinandersetzung um die soziale Absicherung der Zivilbeschäftigten der alliierten Streitkräfte, die im November zu ersten Warnstreiks an den Militärstandorten in Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg geführt hat.

Rund 100.000 Zivilbeschäftigte sind nach Angaben der ÖTV unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedroht. Für sie hat die Gewerkschaft schon Anfang des Jahres ein „11-Punkte- Programm“ vorgelegt, in dem die schnelle Schaffung alternativer Arbeitsplätze gefordert wird. Die Gewerkschaft verlangt vom Bund eine deutliche Senkung des Verteidigungshaushalts und die Verwendung der freiwerdenden Mittel für einen „Fonds zur Schaffung alternativer Arbeitsplätze“, aus dem Infrastrukturinvestitionen in den Gebieten, die bisher besonders abhängig von militärischen Einrichtungen sind, finanziert werden sollen. Regionale Strukturkomissionen aus Vertretern des Bundes, der Länder und Gemeinden, der Wirtschaft und der Gewerkschaften sollen Vorschläge zur vorausschauenden Strukturpolitik entwickeln. Außerdem fehlt es an Daten für Qualifikations- und Altersanalysen der Beschäftigten, nach denen Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen konzipiert werden könnten. Die Gewerkschaft fordert außerdem, daß von den Militärs geräumte Geländeflächen und Einrichtungen unverzüglich an das Land zurückgegeben werden, um die Ansiedlung neuer Betriebe zu erleichtern. Allerdings bedarf es in vielen Fällen noch genauer Untersuchungen über Umwelt- und Forstschäden auf den militärisch genutzten Flächen. Für die Sanierung, so die ÖTV, sollen vorzugsweise die bisherigen Zivilbeschäftigten eingesetzt werden.

Aktuell fordert die Gewerkschaft allerdings einen Tarifvertrag zur sozialen Absicherung der Zivilbeschäftigten — eine Forderung, die beim Bundesfinanzministerium, das stellvertretend für die ausländischen Streitkräfte die Arbeitgeberrolle spielt, bislang auf taube Ohren gestoßen ist. Danach sollen Beschäftigte, die im Zuge der Umstrukturierungen auf einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden, keine Einkommensverluste erleiden, bezahlte Umschulungen und bei Kündigung eine Abfindung erhalten. Weiterhin will sie die Wohnrechte in Dienstwohnungen sichern und Einkommenszuwächse um neun Prozent erreichen. Ergänzt wird das Forderungspaket noch durch eine Vorruhestandsregelung. Wegen der verbreiteten Unsicherheit über Streikmöglichkeiten ließ die ÖTV an allen Standorten ein Flugblatt verteilen. „Dürfen wir bei den Stationierungsstreitkräften streiken?“ wurde darin gefragt. Laut NATO-Truppenstatut bestimmen sich die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen „nach dem Recht des Aufnahmestaates“. Das deutsche Arbeitsrecht gilt also auf dem Boden von Klein-Amerika in Baumholder und Ramstein, ebenso wie an den sowjetischen Standorten in Potsdam. Und so beantwortet die Gewerkschaft die Frage nach dem Streikrecht für die Zivilbeschäftigten in Militäranlagen mit einem einfachen „Ja!“.

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