: Auszubildende am Existenzminimum
■ Mit einem Verdienst von durchschnittlich 300 Mark kommen Ostberliner Auszubildende hinten und vorne nicht zurecht
Berlin. Uwe Scheuer fühlt sich vom Leben betrogen. Als Anwärter für den mittleren Dienst drückt der Ostberliner seit ein paar Monaten die Schulbank in der Westberliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege. Tagtäglich darf er zuhören, wo seine MitschülerInnen den letzten Abend verbracht haben. Er selbst kann sich statt an rotierenden Diskoscheinwerfern höchstens am hellen Schein der Nachttischlampe erfreuen — mit 290 Mark verdient er 850 Mark weniger als seine westlichen MitschülerInnen und kann sich solche Extravaganzen nicht leisten.
Gabriele Buttner weiß an vielen Tagen nicht, wie sie zu Hause noch ein Abendbrot servieren soll. Als Anwärterin für den gehobenen Dienst verdient sie zwar 50 Mark mehr als Uwe, »aber es reicht hinten und vorne nicht«. Ihre Familie kann sie schlecht um finanzielle Hilfe bitten, bis auf einen sind alle ihrer Verwandten mittlerweile arbeitslos. So muß sie mit einem Gehalt auskommen, das weit unter dem Sozialhilfesatz liegt und dennoch von keiner Stelle aufgestockt wird. Denn, so die gesetzliche Regelung, durch ihren Doppelstatus als Studentin und Angestellte hat sie weder Anspruch auf Bafög noch auf eine Aufwandsentschädigung vom Sozialamt.
Voraussichtlich ab dem 1. Januar wird das Gehalt für Ostberliner Auszubildende im mittleren Dienst auf 450 und im höheren Dienst auf 550 Mark aufgestockt. Dennoch bleiben Gabriele und Uwe, zwei von vielen Ostberliner Auszubildenden, die nicht wissen, wie sie demnächst noch ihre Miete aufbringen, die teuer gewordenen Lebensmittel oder die für ihre Ausbildung notwendigen Bücher kaufen sollen. Noch zahlt Gabriele für ihre Wohnung 130 Mark — im nächsten Jahr aber, so schwant ihr bereits, wird die Miete mindestens auf das Doppelte steigen.
Ähnliche Sorgen drücken auch den KFZ-Schlosser Karsten Rebsch. Bei der Ostberliner Stadtreinigung verdient er 370 Mark — ein Defizit von über 400 Mark gegenüber seinen westlichen Kollegen, für das er zum Ausgleich wöchentlich in der ungeheizten Werkhalle auch noch fünfeinviertel Stunden mehr arbeiten darf. Erst ab April soll die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst der ehemaligen DDR von jetzt 43 3/4 Stunden auf 40 Stunden zurückgestutzt werden — das sind dann immer noch anderthalb Stunden mehr als im Westen.
Zwar arbeiten die Auszubildenden in der Kinderkrankenpflege »nur« noch 40 Stunden in der Woche. Dafür aber wissen sie nicht, wie ihre Leistungen ab dem 1. April vergütet werden sollen. Bis jetzt galten sie als StudentInnen, die an Fachschulen in der Krankenpflege ausgebildet wurden und dafür ein Stipendium in Höhe von 280 Mark erhielten. Durch vom Einkommen der Eltern abhängige Sozialzuschläge konnte dieser Ausbildungssatz auf maximal 450 Mark aufgestockt werden. Bis zum 31. März nächsten Jahres greift nun die sogenannte Übergangsausbildungsvergütung — die KrankenpflegeschülerInnen erhalten bis dahin von dem Krankenhaus, mit dem sie den Ausbildungsvertrag geschlossen haben, individuell exakt die Summe, die sie vorher auch bekommen haben — also maximal 450 Mark. Weil darüber hinaus von den meisten Krankenhäusern im Ostteil der Stadt aufgrund der eigenen desolaten Finanzlage keine Schichtzulagen gezahlt werden können, werden die SchülerInnen nur noch zum Zwischendienst eingeteilt. Zum Vergleich: Im Westteil der Stadt arbeiten KrankenpflegeschülerInnen im dritten Lehrjahr in allen Schichten und erhalten einen Bruttomonatslohn in Höhe von 1.077 Mark.
Ein 13. Monatsgehalt, im Westen gang und gäbe, erhalten die Ostberliner Azubis alle nicht. Als »Ausgleich« zu den steigenden Lebenshaltungskosten und den sich angleichenden Tarifen im öffentlichen Nahverkehr werden sie mit den Tücken der freien Marktwirtschaft konfrontiert, die die in der ehemaligen DDR geltende Übernahmegarantie nach der Ausbildung einfach hinweggefegt hat.
Für die Gewerkschaft ÖTV sind die Jugendlichen Verlierer des Einheitsprozesses. Als vordringlichste Aufgabe der ÖTV sieht die Berliner Vorsitzende Olga Leisinger deshalb »unverzügliche Tarifverhandlungen, die außer den Löhnen auch die Arbeitsbedingungen für die Auszubildenden regeln«. Denn auch die Jugendlichen im Westteil der Stadt bekommen die ungleichen Regelungen zu spüren: Die Ausbildungsklassen sind übervoll, der Run auf Arbeitsplätze und Jobs verstärkt sich, wobei bei letzteren meist die Ostberliner KonkurrentInnen als Sieger hervorgehen — lassen sie sich doch zu Dumping-Preisen anheuern. Im ambulanten Gesundheitswesen, erzählt Holger Eisenhardt, zuständig für den ÖTV-Jugendbereich, sei dies besonders stark zu spüren: Westliche Ärzte werben derweil gezielt die für westliche Standards schlecht bezahlten Auszubildenden der Ostberliner Berufsschule für Arzt- und ZahnarzthelferInnen ab, um sie dann als ungelernte Kräfte in der eigenen Praxis einzusetzen — zwar erhalten diese HelferInnen dann mehr Geld als vorher, aber eben doch nicht so viel wie eine vergleichbare westliche Kraft — für die Ärzte allemal ein Gewinn. maz
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